Warum Kassel die normalste Stadt Deutschlands ist

Ein für alle Mal: Kassel ist nicht schön. Wer das Gegenteil behauptet, postet auch gerne Buzzfeedartikel, die einzig und alleine Fotos vom Bergpark beinhalten. Kassel ist vor allem eines - sehr normal.

Eine normale Straße, bei Nacht, in einer normalen Stadt

Foto: Lasse Kohlmeyer

Woran denke ich, wenn ich mir meine Heimat vor Augen führe? Kassel ist ein nicht enden wollender Regenschauer, das nächtliche Warten an Bushaltestellen, die Suche nach der offenen Kneipe, ein unbequemer Jungesellinenabschied aus Korbach, der einem am Samstagnachmittag in der Fußgängerzone Schnäpse aufschwatzten will, die Stadt gewordene Frage: "treffen wir uns bei dir oder bei mir?" - wo auch sonst - es hat ja bereits alles geschlossen?! Kassel ist die Einigkeit, dass man irgendwann mal raus will, aber auch die Übereinkunft, dass man es sich bis dahin so schön wie möglich machen sollte. Das ist mitnichten etwas Besonderes, sondern sehr normal. Casselfornia, aka. "die Stadt, in der nie die Sonne scheint", ist vieles, aber nicht "die schönste Stadt der Republik".

Kassel im Fadenkreuz der Blogs

Foto: Lasse Kohlymeyer

Wenn man auf dem Weg von Hannover nach Frankfurt fährt, dann passiert man ein Tal, in dem die kleinste 200.000 Einwohnerstadt der Bundesrepublik liegt: Kassel. Helene Flachsenberg, Redakteurin des Onlinemagazins bento, vertritt in einem jüngst veröffentlichten Artikel, die steile These, dass die aus Betonklötzen und Stracke zusammengehaltene Siedlung, am obersten Zipfel Nordhessens, "die schönste Stadt Deutschlands" sei. Eine Woche später kursiert ein Buzzfeedpost in meiner Facebooktimeline. Die lustigerweise ironisch gemeinte Überschirft "21 Gründe, niemals einen Fuß nach Kassel zu setzen", steht im Kontrast zu 21 wunderschönen Bergparkfotos, die das Gegenteil beweisen sollen. Mensch Internet, warum willst du Kassel auf einmal zu etwas hoch-posten, was es nicht ist? Wie bekämpft man Buzzfeed- und bento-Artikel? Richtig - mit Buzzfeedartikeln.

Es stimmt, Kassel hat was - keine Frage. Etwas bis zum gähnenden Extrem Normales. Man muss diesen Umstand nicht feiern, aber man kann.

Das Mahnmal der Nachkriegsarchitektur

Foto Lillith Kreiss

Der erste Teil der obskuren Argumentationskette, mit der die Autorin Helene Flachsenberg die einzigartige Schönheit der nordhessichen Metropole zu begründen sucht, ist die Kasseler Innenstadt. Das beispiellose Mahnmal für verkorkste Nachkriegsarchitektur, dürfte für jeden, egal ob Kassler, oder Documentabesucher, alles sein - wirklich alles, außer ein Pluspunkt, für die Perle an der Fulda. Die Autorin erklärt, "Du brauchst irgendwas - auf der Königsstraße findest du alles." Wenn Zara, H&M, Nordsee und nanu-nana Indikatoren für ein perfektes Shoppingerlebnis sind, dann ist Guido Maria Kretschmer auch ein Indikator für stilsichere Fernsehauftritte. Während mittlerweile sämtliche Einzelhändler aus dem Zentrum auch liebevoll "die Stadt" genannt, vertrieben wurden, hat man jedoch, nach wie vor, die Chance die immergleichen Straßenmusiker anzutreffen. Huch - ein Pluspunkt. Aber doch bitte kein voreiliges Loblied auf eine Innenstadt, in der das Parken mehr kostet, als der ganze Familieneinkauf - in einer ostdeutschen Kleinstadt.

Weltkultur sterbe!

Foto: Lasse Kohlmeyer

Kassel hat viele Parks - jawoll-ja! Wir haben kleine Parks, große Parks und alle sind sie liebreizende Beispiele dafür, dass man mit dem passenden Eventmanagement aufkeimende Subkultur von den Grünflächen zurück in die Proberäume prügeln kann. Die Parks der Stadt opfert man nur all zu gerne Volksfesten, wie dem Zissel. Wer nicht zu den Vokuhila tragenden Partybesuchern gehört, die sich pöbelnd durch die Fressbuden schieben und eins nach dem anderen hinter die Binde Kippen, kippt sich einen hinter die Binde, um das Ganze zu vergessen. Während alternative Get-togethers, wie das "Mind the Gap Festival" im Nordstadtpark, durch Lärmbeschwerden und das Ordnungsamt vertrieben werden, kann man sich in gepflegter Manier, in anderen Parks, über Oldtimertreffen und Picknicks, begleitet von klassischer Musik, erfreuen. Wenn der BuGa-See gerade einmal nicht aufgrund von Blaualgen zur Gefahr für Leib und Leben mutiert, oder die übertretende Fulda die Karlswiese nicht eine Sumpflandschaft verwandelt, sind sie ganz schön - die Grünflächen Kassels.

Was ist das nur für 1 Straßenbahn?!

Foto: Torben Lehning

Natürlich darf man Kassel loben. Man darf Kassel dafür loben, dass man bis in die 2000er hinein, in regelmäßgien Abständen, in Kassels Südstadt durch Klopapier und Scheiße watete. Die Kanalisation war maßlos überlastet - beschwert hat sich keiner. Wir planschten! Wofür man Kassel jedoch nicht loben sollte, ist sein Öffentlicher Nahverkehr. Für 2,80 € pro Einzelfahrschein bringt einen die KVG überall hin, so lang es nicht nach 22:00 Uhr ist. Um diese unchristliche Zeit ist in Kassel Feierabend, die Bordsteiene werden hochgeklappt. Bahnen und Busse verkehren so eingeschränkt, dass man entweder oft und gerne beieinander schläft, ausgiebige Radtouren liebt oder das Geld für ein Minicar ausgibt. Mitten in der Nacht auf eine Bahn zu warten - auf diese Idee würde kein Kassler kommen, außer Helene Flachsenberg.

Eure Mutter

Foto: Mutter / Via Facebook: MutterBar

Wenn es "die Kneipe" in Kassel gibt, dann ist es doch bitte nicht das FEZ. Liebe Helene Flachsenberg - doch nicht das FEZ! Dort trifft man sich einmal im Jahr, zur Weihnachtszeit. Man trifft alte Grundschulkameraden, um ihnen "Hey, na wie geht's zu sagen", sich interessiert nickend abzuwenden, um das ganze bei der nächsten Person zu wiederholen. Wenn es in Kassel "die Kneipe" gibt, dann ist es "die Mutter". Die Bilder an den Wänden des exquisiten Etablissements sind eine Documenta für sich, die Kickertische sind ranzig, aber funktionstüchtig und der über allem wabernde Rauch, tötet sämtliche Bakterien ab, die man sich beim Aufenthalt in den sanitären Anlagen eingefangen hat. Da vermisst man nicht einmal mehr das Förder.

Alle fünf Jahre wieder

Foto: Torben Lehning

Die Documenta, ja das ist was Feines. Alle lieben die Documenta und dafür gibt es Gründe. Über Nacht wird Kassel zu dem, was es immer gerne sein wollte und noch immer sein will - eine beliebte, pulsierende und moderne Stadt. Die Kunsttreibenden geben den Kunstliebenden die Museumsführer in die Hand. Plötzlich ist die Stadt proppenvoll und man redet über "diese eine Installation von diesem einen kanadischen Künstler" - die war so flott. Alle fünf Jahre berichtet die Hessenschau über den Teil Hessens, der oberhalb von Gießen liegt und in Kassel wird richtig dick aufgefahren. Aus allen Ecken und Gassen sprießen Bars und Clubs hervor, die alten Lagerhallen werden zu Szenetreffs umfunktioniert. Leider schließen diese mondänen Oasen nach dem Ende jeder Documenta schneller, als die stehen gelassenen Kunstwerke mit Graffiti besprayt werden können. Aber das kommt ja alles wieder - in fünf Jahren. Bis dahin geht's eben wieder in die Mutter.

Schön normal

Foto: Torben Lehning

Meine Heimatstadt ist nicht schön - sie ist eben meine Heimatstadt. Garantiert nicht besser oder schlechter als andere Heimatstädte - aber auf jeden Fall nicht schön. Ich danke Kassel dafür, dass ich, egal in welcher Stadt ich Fahrrad fahre, über die lächerlichen Steigungen und platten Flächen lachen kann. Ich danke dem Parkhauswächter in der Innenstadt, der uns immer erst mal eine Stunde machen ließ, bevor er uns mit erhobener Taschenlampe vom obersten Dach jagte. Vor allem jedoch danke ich den Leuten, die Kassel nicht deswegen als gut erachten, weil es dort jetzt ein Starbucks und schicke Burgerläden gibt. Solche, die keinen Buzzfeedartikel posten, in dem es einzig und allein Fotos vom Bergpark zu bestaunen gibt. Ich danke den Leuten, die sich am Kulturzelt, das Nörten-Hadenberger in der Hand, Bands anhören, obwohl sie diese nicht sehen können. Die Blickdichte Plane ist im Weg – macht nichts. Hauptsache man liest nicht erst in der HNA von dem, was geschah. Danke an die Leute, die dafür sorgen, dass die KiWi so heißt, wie sie heißt. Dank euch ist es in Kassel so schön - normal.