Potentiell giftige Kabinenluft wird offenbar in vielen Fällen nicht detailliert untersucht

    “Muss es erst zum Crash kommen, bevor die Behörde untersucht?”

    Zahlreiche Zwischenfälle mit möglicherweise giftiger Kabinenluft sind in den vergangenen acht Jahren von der zuständigen Behörde offenbar nicht detailliert untersucht worden. Das zeigen Recherchen von BuzzFeed News. Die Pilotenvereinigung Cockpit nennt die fehlenden Untersuchungen sogenannter Fume Events “fatal und unverantwortlich”.

    Es dürfe aus Gründen der Flugsicherheit nicht sein, dass auch nur ein Fall nicht untersucht wird, erklärte Cockpit-Sprecher Markus Wahl. Politiker fordern strengere Vorgaben für Luftfilter und verbindliche, mit Sanktionen unterlegte Vorschriften für den Fall eines Fume-Events.

    Der Flugkapitän Michael Kramer hat selbst einen Vorfall mit kontaminierter Kabinenluft erlebt. Im September 2015, kurz nach dem Start in London, roch es im Cockpit plötzlich stark nach Öl. Kramer wurde etwas schwindlig, er bekam Kopfschmerzen. Im Landeanflug trat der Ölgeruch wieder auf, diesmal stärker. Nun klagte auch der Copilot über Schmerzen – in Kopf und Brust. Beide fühlten sich wie benommen. Kramer schaltete die komplette Luftzufuhr ab, beide Piloten setzten die Sauerstoffmasken auf.

    Kramer sagt, sein großes Glück war, dass der Airbus damals über eine automatische Landefunktion verfügte und das Wetter gut war, “sonst wären wir beide nach weiteren Minuten eingeschlafen und es wäre zur Katastrophe gekommen”. Auf der Landebahn steuerte Kramer gegen den Autopiloten an, den er vergessen hatte auszustellen. Später stellte er fest, dass die Schalter im Cockpit von einem feinen Ölfilm überzogen waren.

    Von 131 Fällen untersuchte die Behörde bisher nur fünf

    Recherchen von BuzzFeed News bei von Andreas Lubitz geflogenen Germanwings-Maschinen zeigen erstmals, wie selten die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) solche Fume Events tatsächlich untersucht. Demnach ist die Behörde rund neun von zehn der von BuzzFeed News ermittelten Meldungen zwischen 2008 und Januar 2017 nicht unmittelbar nachgegangen.

    Zwar veröffentlichte die BFU vor drei Jahren einen Bericht, in dem sie für den Zeitraum 2006 bis 2013 rückwirkend 663 Fume-Event-Meldungen rückwirkend betrachtete – allerdings nur auf Grundlage von Datenbankeinträgen. Untersuchungen am Flugzeug selbst und mit den Mitteln der Behörde waren dagegen äußerst selten. Von 131 durch BuzzFeed News überprüften Fällen untersuchte die Behörde nur fünf, neun Untersuchungen laufen noch.

    Grundlage der Berechnung von BuzzFeed News waren Daten des Luftfahrtexperten Tim van Beveren, welche dieser für ein Gutachten der Familie Lubitz zum Absturz von Germanwings-Flug 4U9525 zusammengetragen hatte. Sie spiegeln daher nicht die Gesamtheit aller Fume Events im deutschen Luftverkehr wider, sondern einen Ausschnitt: jene 46 Flugzeuge, in denen Andreas Lubitz ausweislich seines Flugbuches unterwegs war. BuzzFeed News hat die Daten von der zuständigen BFU bestätigen lassen. Eine endgültige Aussage über den Anteil der untersuchten Fume Events bei allen deutschen Flugzeugen ist daher nicht möglich.

    Die BFU antwortete nicht darauf, warum sie offenbar die Mehrheit der Fälle nicht untersucht und wie so etwas überhaupt entschieden wird. Die Behörde erklärte lediglich, sie halte sich bei der Untersuchung an zwei Rechtsvorschriften: An das 19 Jahre alte deutsche Flugunfallgesetz sowie die entsprechende EU-Verordnung von 2010. In ihrem Fume-Event-Bericht von 2014 erklärt die BFU, dass sie mögliche medizinische Langzeitfolgen ohnehin nicht klären könne. Das müssten vielmehr Toxikologen übernehmen.

    Auf die Bitte von BuzzFeed News, konkretere Fragen binnen einer Woche zu beantworten, schrieb Behördensprecher Freitag unter anderem: “Die BFU und mich interessieren keine durch Journalisten gesetzte Fristen. Diese sind ausschließlich ihr eigenes Problem.”

    In der Verantwortung? "Eindeutig die Politik"

    Der Linken-Bundestagsabgeordnete Thomas Lutze sieht beim Thema Fume Events “eindeutig die Politik” in der Verantwortung. Es sei einem profitorientierten Unternehmen nur bedingt zum Vorwurf zu machen, wenn es aus Kostengründen nur die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen ergreift. Der Gesetzgeber müsse strengere Vorgaben für Sensoren, Filter oder anders arbeitende Kabinenluftsysteme ausarbeiten.

    Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Markus Tressel wünscht sich “verbindliche, mit Sanktionen unterlegte Vorschriften für den Fall eines Fume-Events”. Der Bundesregierung sei die ganze Kabinenluft-Problematik seit Jahren durch parlamentarische Anfragen bekannt. Doch sie versuche immer noch, “das Problem kleinzureden”.

    Für Pilot Michael Kramer ist unverständlich, warum die BFU nicht alle gemeldeten Fälle überprüft. “Muss es erst zum Crash kommen, bevor die BFU untersucht?”, fragt Kramer. Seine kognitive Störungen halten bis heute an. Der Pilot sagt, er leide unter anderem an Nerven-, Gleichgewichts- und Sehbeschwerden, außerdem ist seine Lunge dauerhaft geschädigt. Kramer ist heute fluguntauglich.

    Obwohl die Berufsgenossenschaft Verkehr das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt hat und Kramer Verletztengeld zahlt, hat die BFU den Fall als “Schwere Störung ohne Verletzte” eingestuft. Ein “Unfall” liegt laut BFU-Definition nur dann vor, wenn eine Person im Luftfahrzeug eine “schwere Verletzung” erlitten hat. Dazu zählen auch “Schäden an inneren Organen”. Ob Schäden am Gehirn und an Nervenzellen, wie sie Kramer erlitten hat, auch darunter fallen, beantwortete die BFU auf Nachfrage von BuzzFeed News nicht.

    Warum werden viele Fume Events nicht untersucht?

    Dass die BFU nicht allen Fällen nachgeht, hängt für Christiane Donath von der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation (UFO) auch damit zusammen, dass viele Airlines den Betroffenen anbieten, einige Tage freizunehmen statt sich offiziell krank zu melden. “Leider nehmen das viele Kollegen an und in der Statistik der BFU taucht dann kein ‘geschädigter Mitarbeiter’ auf.” Ohne eine Krankschreibung hätten diese Personen bei späteren Schäden aber kaum Chancen, ihre Ansprüche gegenüber der Berufsgenossenschaft durchzusetzen.

    Die Anfrage legte auch zutage, wie intransparent die Behörden mit Fume Events umgehen.

    Gegenüber Buzzfeed erklärte BFU-Sprecher Germout Freitag, dass alle fünf Fälle, die in den vergangenen neun Jahren untersucht und abgeschlossen wurden, “dem Internetauftritt der BFU” zu entnehmen seien. Tatsächlich waren dort nur zwei der Ereignisse erwähnt. Auf Nachfrage reichte Freitag die fehlenden drei Berichte nach: Sie fanden sich ausschließlich in der gemeinsamen Plattform für Unfall- und Störungsreporte der Europäischen Kommission, der sogenannten ECCAIRS-Datenbank. Diese Datenbank ist passwortgeschützt und nur einem kleinen Kreis von Spezialisten zugängig. Eine Registrationsanfrage von BuzzFeed News wurde abgelehnt.

    BFU-Sprecher Freitag erklärte, es bestehe bei Untersuchungsberichten grundsätzlich eine Pflicht zur Anonymisierung. Dies ergebe sich aus der entsprechenden EU-Verordnung. “Nach Sinn und Zweck der Normen gilt das auch für andere Formen der Veröffentlichung.”

    Zu Fume Events gibt es kaum Transparenz

    Hinzu kommt, dass die wenigen öffentlichen Berichte keinerlei Information zu den betroffenen Airlines oder Flugzeugkennungen enthalten. Passagieren ist es so praktisch unmöglich, von Fume Events zu erfahren. BuzzFeed News konnte nur über Umwege erstmals die Fume Events der Germanwings-Flugzeuge rekonstruieren – und damit einen Einblick in die Arbeit der zuständigen Behörde BFU bekommen.

    Ob und wie Airlines ihre Passagiere über solche Vorfälle informieren, bleibt dagegen offen. Die Germanwings hat auf diese Frage keine Antwort gegeben. Bei der Germanwings waren Hinweise auf Fume Events im vergangenen Jahr nach Recherchen von BuzzFeed News fünfmal häufiger als bei anderen deutschen Fluglinien.

    Sowohl das Arbeitsschutzgesetz als auch die gesetzliche Unfallversicherung schreiben eine Gefährdungsbeurteilung für den Arbeitsplatz vor. Das gilt auch für Flugzeuge. Ob Firmen das Arbeitsschutzgesetz einhalten, wird durch die Arbeitsschutzbehörden der Länder geprüft. “Fehlt eine Gefährdungsbeurteilung, kann sie durch Anordnung eingefordert werden,” schrieb der Sprecher des Bundesarbeitsministeriums, Christian Westhoff, auf Anfrage. Wer sich nicht daran hält, kann unter anderem mit einem Bußgeld bestraft werden.

    Ob die Germanwings eine solche Beurteilung durchgeführt hat, beantwortete Pressesprecher Matthias Burkard auf Nachfrage nicht. Jüngst hatte die Berufsgenossenschaft Verkehr eine solche Gefährdungsbeurteilung bei allen Airlines angemahnt. Auch Arbeitsmediziner fordern solche Präventionsstrategien.

    Streit über die mögliche Folgeschäden

    Flugzeughersteller, Airlines und die Berufsgenossenschaft Verkehr sagen dagegen, dass Fume Events keine dauerhaften Erkrankungen auslösen können. Germanwings-Sprecher Matthias Burkard verweist dazu auf Messungen der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA). Demnach ist die Luft an Bord von Flugzeugen angeblich so sauber wie die in Büros, Schulen oder Kindergärten.

    Professor Xaver Baur, Arbeitsmediziner an der Charité Berlin, hält die EASA-Studie für nicht repräsentativ und kaum aussagefähig. “Die Luftqualität in Flugzeugen ist nie während eines der seltenen Fume Events gemessen worden, sondern nur im regulären Flugbetrieb.” Auch sei die Fallzahl mit 69 Testmaschinen sehr klein. “Eine statistisch valide Aussage über eine Kontamination der Luft und mögliche gesundheitliche Folgen für Besatzungsmitglieder und Passagiere lässt sich so nicht treffen.”

    Zudem steht der damalige Leiter der EASA-Kabinenluftstudie, der Messtechniker Wolfgang Rosenberger von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), wegen seiner Qualifikationen in der Kritik. Die MHH hat in der Vergangenheit bereits zahlreiche Messungen im Auftrag der Lufthansa, der Condor und anderer Airlines durchgeführt. Auch in diesen Messungen waren angeblich nie Schadstoffe in gefährlicher Konzentration gefunden worden. Doch diese Ergebnisse wurden bisher weder wissenschaftlich validiert noch veröffentlicht.

    Eine im Januar 2017 veröffentlichte Studie aus den USA zeigt, dass Öltröpfchen in der Luft von Flugzeugen mitunter ultrafein sind, kleiner als 10 Nanometer. Sie können mit herkömmlichen Sensoren und Filtern nicht erfasst werden. Was das für Menschen heißt, die das einatmen, ist noch nicht abschließend erforscht. Die Studie war von der US-Luftaufsichtsbehörde FAA und der NASA unterstützt worden.