Ein Reporter des Tagesspiegel soll Kolleginnen bedrängt, gestalkt und sexuell belästigt haben

    Das berichten mehrere Frauen und langjährige Mitarbeiter gegenüber BuzzFeed News Deutschland. Konfrontiert mit den Recherchen hat der Tagesspiegel den Mitarbeiter freigestellt und plant, eine Ombudsstelle einzurichten.

    Paula ist eine junge Journalistin beim Tagesspiegel, als sie gemeinsam mit einem Reporter des Tagesspiegel auf der Party eines Redakteurs ist. Der Reporter ist seit mehr als zwanzig Jahren bei der Zeitung beschäftigt. Einer, der Situationen retten kann, der aus einem schlechten Text fast immer einen guten macht. Einer, der schon lange dabei ist. Einer, auf den man zählt.

    Paula ist neu im Haus, Mitte 20, nicht fest angestellt – und sie ist vor dem Reporter gewarnt worden. Noch bevor sie ihn zum ersten Mal persönlich trifft, rät ihr eine ältere Kollegin: „Wenn er seine Hand auf dein Knie legt, schlag sie einfach weg.“ Daran erinnert sie sich in einem Gespräch mit BuzzFeed News. Paula arbeitet noch heute beim Tagesspiegel, sie möchte aus Angst vor beruflichen Problemen nicht mit ihrem richtigen Namen in diesem Artikel auftauchen. Auch der Name des Mannes wird von BuzzFeed News aus rechtlichen Gründen nicht genannt.

    Während der Party habe der Reporter sie abgedrängt und versucht, auf dem Balkon mit ihr alleine zu sein. Als sie die Party habe verlassen wollen, habe sie sich überreden lassen, sich mit ihm ein Taxi zu teilen. Beide müssen in dieselbe Richtung. Im Taxi habe sich der Reporter dann zu ihr herübergebeugt und ihr an die Brust gefasst. „Ich war so perplex, dass ich es weggelächelt und abgelenkt habe“, sagt sie.

    Paula gibt an, dass der Vorfall etwas mehr als fünf Jahre zurückliegt. Die Journalistin ist eine von mehreren Frauen, die dem Tagesspiegel-Journalisten Belästigung, Stalking und Mobbing vorwerfen. Die Chefredaktion wurde nach Informationen von BuzzFeed News 2012 über das grenzüberschreitende Verhalten des Mannes informiert, hat aber seitdem offenbar nur wenig unternommen.

    Der Journalist bestreitet die Vorwürfe gegen ihn und spricht von einer Rufmordkampagne. BuzzFeed News gegenüber streitet der Reporter ab, dass es jemals zu der Situation im Taxi gekommen ist, welche die Frau schildert. „Ich habe mir mit niemandem ein Taxi geteilt und habe niemandem an die Brust gefasst, ganz bestimmt nicht“, sagt er gegenüber BuzzFeed News am Telefon.

    Der Tagesspiegel will als Reaktion auf die Recherche eine Ombudsstelle einrichten

    Der Tagesspiegel hat den Reporter diesen Mittwoch bis zur Klärung der Vorwürfe freigestellt. Das sagte Chefredakteur Lorenz Maroldt in einem Gespräch mit BuzzFeed News am Donnerstag. Maroldt habe nach der Anfrage von BuzzFeed News in den vergangenen Tagen zahlreiche Gespräche mit Frauen im Tagesspiegel geführt, in denen weitere Vorwürfe gegen den Mann geäußert worden seien.

    Zudem hätten Frauen in Gesprächen mit Maroldt noch drei weitere Namen genannt, die im Zusammenhang mit unangemessenem Verhalten gegenüber Mitarbeiterinnen stehen. Dabei handele es sich um sehr unterschiedliche Vorwürfe, von verbaler Übergriffigkeit bis hin zu sexueller Belästigung.

    Maroldt sagte, er habe die beschuldigten Personen bereits damit konfrontiert und sie unter anderem gebeten, ihr Verhalten zu überdenken.

    Zur Aufklärung der Vorfälle will der Tagesspiegel nun eine Ombudsstelle sowohl im Verlag als auch in der Redaktion schaffen. Entsprechende Treffen, zu denen alle Frauen aus Verlag und Redaktion eingeladen wurden, fanden am Donnerstagmorgen statt. Außerdem gab die Chefredaktion in einer Redaktionssitzung bekannt, dass es Vorwürfe sexueller Belästigung im Haus gebe und Konsequenzen gezogen worden seien.



    Habt ihr weitere Informationen, die diese Recherche betreffen? Oder habt ihr Erfahrungen mit Belästigung in einer deutschen Redaktion gemacht? Dann meldet euch bei uns. Unsere Reporterin Pascale Müller erreicht ihr per Mail pascale.mueller@buzzfeed.com und über Whatsapp/Signal 015758473789. Für Hinweise und vertrauliche Dokumente haben wir außerdem einen anonymen und sicheren digitalen Briefkasten.



    Die Frauen, die der Reporter in den vergangenen Jahren kontaktiert, stehen ganz am Anfang ihrer Karriere: Sie sind Praktikantinnen, Volontärinnen, freie Journalistinnen, die meisten sind Anfang, Mitte zwanzig. Der Reporter ist Jahrgang 1964. Viele dieser Frauen sind extra für die Arbeit beim Tagesspiegel nach Berlin gezogen, für die meisten ist es der erste richtige Job im Journalismus. Sie haben dort kaum Kontakte. Der Reporter nutzt diese Situation offenbar aus, bietet sich als älterer Kollege und Unterstützer in einer harten Branche und einer fremden Stadt an.

    Teilweise schickt er den Frauen schon vor ihrem Arbeitsantritt in der Redaktion gezielt Freundschaftsanfragen auf Facebook, sucht ihre Nähe auf Weihnachts- und Betriebsfeiern. Die Facebook-Nachrichten, so berichten es die Frauen, unterscheiden sich nur geringfügig: Der Reporter schreibt, dass seine Tür immer offen stehe. Dass die Frau auf einen Tee vorbeikommen solle. Dass er immer gerne ihre Texte lesen könne.

    Im Gespräch mit BuzzFeed News erklärte der Mann, das sei von ihm als normales kollegiales Verhalten gemeint gewesen.

    Die Vorwürfe gegen ihn beschreiben, wie ein Mann seine Stellung in der Redaktion ausgenutzt haben soll, um sich über Jahre hinweg deutlich jüngeren Kolleginnen mit eindeutigen Absichten zu nähern und sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Redaktion massiv unter Druck zu setzen, wenn sie ihm Grenzen setzen. Sie werfen die Frage auf, warum der Tagesspiegel es offenbar nicht geschafft hat, junge Journalistinnen besser vor übergriffigem Verhalten zu schützen.

    Chefredakteur Lorenz Maroldt sagt dazu, von den aktuellen Vorwürfen habe die Chefredaktion erst durch diese Recherche erfahren. „Es ist nicht ein einziger Vorfall konkret an uns herangetragen worden“, so Maroldt. „Ich bin mir sicher, wären solche Vorwürfe bekannt geworden, hätten wir sofort das getan was wir jetzt tun: nämlich eine Ombudsfrau einzurichten.“

    Junge Frauen werden vor ihm gewarnt

    Eine Journalistin des Tagesspiegel hat das Verhalten des Reporters seit vielen Jahren beobachtet. Sie sagt, er mache sich vor allem auf Weihnachtsfeiern gezielt an junge Frauen heran, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befänden oder im Haus nicht gut vernetzt seien. „Man kann ihn auf Beutesuche da rumschleichen sehen, durch alle Räume“, so die Journalistin. Sie habe deshalb über die Jahre immer wieder junge Frauen vor ihm gewarnt.

    Sie sagt: „Ich glaube nicht, dass er nur den Hauch einer Chance hätte mit dem, was er tut, wenn er nicht sein hierarchisches Verhältnis ausnutzen könnte. Der Tagesspiegel – ohne es zu wollen – gibt ihm erst die Plattform für das, was er macht.“ Für sie fällt sein Verhalten daher eindeutig in einen beruflichen Kontext.

    Der Reporter sagt im Gespräch mit BuzzFeed News dazu: „Ich habe das bei der letzten Weihnachtsfeier gesehen, dass mich die Leute zum Teil angucken, als hätte ich Krätze. Ich habe auch einer Kollegin gesagt: Was erzählt ihr über mich? Ihr kennt mich überhaupt nicht. Ihr hört nur irgendwas, tragt das irgendwie weiter, irgendwie kommt ein neues Ding dazu und ich bin dann auf einmal der Lüstling, der durch die Gänge streicht und nach jungen Frauen sucht.“ Dies sei in höchstem Maße ehrverletzend.

    „Beim Tagesspiegel haben es alle gewusst.“

    Einem langjährigen Mitarbeiter haben sich über die Jahre mehrere betroffene Frauen direkt anvertraut. Der Mitarbeiter schreibt in einer ausführlichen Stellungnahme an BuzzFeed News, der Reporter genieße viel Ansehen in der Redaktion. Sich offen gegen ihn zu stellen könne einem extrem schaden. Eine Journalistin des Tagesspiegel sagt BuzzFeed News am Telefon, dass der Reporter mit vielen wichtigen Männern im Haus befreundet sei: „Ich würde mich auch nicht trauen, da was zu sagen.“ Beide möchten deshalb nicht mit ihrem Namen in diesem Artikel auftauchen.

    Der Mitarbeiter hat sich auch deshalb entschieden, mit BuzzFeed News zu sprechen, weil er ein schlechtes Gewissen hat und sich hilflos fühlt. „Beim Tagesspiegel haben es alle gewusst. Kollegen aus unterschiedlichen Ressorts“, schreibt er. „Ich war bei vielen Gesprächsrunden dabei, in denen sich Kollegen über den Reporter unterhielten und dass er junge Frauen bedrängt, sie penetrant anmacht, auch stalkt und teilweise mit Mails bombardiert.“ Allen Personen in solchen Gesprächen sei klar gewesen, dass dringend etwas geschehen müsse. Nur was, das habe niemand gewusst.

    Auch ein freier Autor des Tagesspiegel sagt gegenüber BuzzFeed News, dass der Reporter „ekelhaft“ Frauen anmache, sei in der Redaktion bekannt. „Die Leute wissen davon“, so der Journalist.

    Der Mann weist diese Vorwürfe zurück. „Ich kontaktiere auf Facebook alle Leute vom Tagesspiegel, die ich kenne. Darunter sind auch Frauen, wahrscheinlich auch viele Frauen“, sagt er. „Ich bombardiere niemanden mit Mails und ich suche eines niemanden Nähe bei Feierlichkeiten, ganz bestimmt nicht.“

    Nächtliche Anrufe und ein Gefühl von „krasser Bedrohung“

    Die Vorwürfe unterscheiden sich. In einem von BuzzFeed News recherchierten Fall lautet er sexuelle Belästigung. In den anderen Fällen geht es um Machtmissbrauch und Stalking-Vorwürfe nach zunächst einvernehmlichen Beziehungen.

    Mit einer der Frauen, die mit BuzzFeed News über ihre Erlebnisse gesprochen haben, hatte der Reporter zuvor eine Affäre, die auf einer Weihnachtsfeier ihren Anfang nahm. Wir haben den Namen der Frau in Theresa geändert, da sie bei einer Veröffentlichung unter ihrem richtigen Namen Angst vor beruflichen Problemen hat. Die einvernehmliche Affäre zwischen dem Reporter und Theresa allein wäre kein Grund für eine Berichterstattung. Als Theresa diese aber beendet, habe der Reporter sie bedrängt, sie permanent angerufen, begonnen ihre Texte in der Redaktion schlecht zu reden. Der Vorfall liegt mehr als fünf Jahre zurück.

    Nach der Affäre weiß der Reporter, wo die Frau wohnt. Es habe Momente gegeben, in denen sie sich von ihm „krass bedroht“ gefühlt habe, sagt sie. „Es war für mich total schlimm zu merken, da ist jemand, der ist jetzt irgendwie in deinem Leben, wobei ich ihn da überhaupt nicht haben will und ich krieg ihn da nicht raus.“

    „Im Geiste war ich tausendmal bei der Polizei“

    Irgendwann stellt Theresa nachts das Handy aus, weil der Reporter sie auch nach der Trennung ständig angerufen habe. Am nächsten Morgen habe sie sehr, sehr viele Anrufe von ihm gehabt, sagt sie. An eine genaue Zahl kann sie sich nicht sicher erinnern. Bei einem ersten Gespräch mit BuzzFeed News sagt Theresa, es seien etwa 70 gewesen. Bei einem zweiten Gespräch spricht sie von „gefühlt 100“.

    „Ich habe kein Foto mehr, aber es waren wahnsinnig viele. Und es war nicht nur in dieser Nacht.“ In dieser Zeit habe sie darüber nachgedacht, ihn wegen Stalkings anzuzeigen. „Im Geiste war ich tausendmal bei der Polizei“, erinnert sich Theresa. BuzzFeed News liegt eine Mail vor, in der sie dem Reporter dies auch mitteilt. Sie habe ihn am Ende nicht angezeigt, weil sie Bedenken hatte, die Vorfälle nicht ausreichend belegen zu können.

    Der Reporter räumte im Gespräch mit BuzzFeed News die Affäre sowie die zahlreichen Kontaktaufnahmen ein – auch, nachdem die Frau ihm schrieb, dass sie überlege, die Polizei zu informieren. Er habe das aber nicht tun wollen, um Theresa zu bedrängen, sondern um die Sache klar und sauber zu beenden.

    Von Kollegen aus der Redaktion habe Theresa erfahren, dass er dort nach ihrer Nummer gefragt habe. Außerdem wird sie von einer Kollegin vor dem Reporter gewarnt. Dieser habe schlecht über ihr Arbeit gesprochen und gesagt, einer ihrer Texte sei „dem Tagesspiegel nicht würdig“. Theresa solle aufpassen.

    Die Kollegin bestätigt gegenüber BuzzFeed News, dass der Reporter auffällig negativ über die Artikel von Theresa gesprochen und auch sie dazu angehalten habe, die Arbeit von Theresa schlecht zu machen. Der Reporter bestreitet das.

    Theresa sagt, der Reporter habe sie auch zu Treffen gedrängt, die sie im Rückblick als „entwürdigend“ beschreibt. Sie habe aber das Gefühl gehabt, dass sie nicht nein habe sagen können – weil sie zunehmend das Gefühl bekommen habe, dass er in der Redaktion Einfluss auf sie habe. „Er kennt alle Leute und ist Buddy mit allen und ist eben auch ein anerkannter Reporter. Das hat dann angefangen, da mit reinzuspielen“, sagt sie.

    Der Reporter kündigt damals an, über die Beziehung zu Theresa eine Reportage für die Sonntagsausgabe des Tagesspiegel zu schreiben. Eine entsprechende Mail liegt BuzzFeed News vor. Darin heißt es: „Ich werde für den Sonntag eine Beziehungsgeschichte aufschreiben, die unserer von 2012 doch sehr ähnelt. War ja schon sehr schräg. Ich werde mich selbst nennen, dich nicht. Versprochen. Ich gehe mal davon aus, dass du nichts dagegen hast.“

    Der Reporter schreibt Theresa auch heute noch etwa zweimal im Jahr und sagt, dass er sie treffen wolle. BuzzFeed News liegen entsprechende Mails vor. „Ich habe nie mehr geantwortet“, sagt sie.

    Die Verunsicherung, wie mit den Vorwürfen umzugehen ist sitzt tief

    Die Frauen, mit denen BuzzFeed News gesprochen hat, sagen immer wieder das Gleiche: Ich wollte einfach nur, dass er mich in Ruhe lässt.

    Eine von ihnen hat große Angst und möchte nicht mit Namen oder anderen Details zu ihrer Person in diesem Artikel erscheinen. Sie hat mit BuzzFeed News gesprochen, um andere Journalistinnen zu schützen. „Es darf so einfach nicht weitergehen. Es geht einfach nicht, dass er damit durchkommt und dass er weiter so Frauen quält“, sagt sie.

    Der langjährige Mitarbeiter schreibt: „Von je mehr Fällen ich über die Jahre erfuhr, und zwar direkt von betroffenen Frauen selbst, desto klarer wurde, dass es hier nicht um ungeschicktes Flirten oder Gefühlschaos geht. Sondern dass es hier einen Täter und viele Opfer gibt.“

    Die Chefredaktion erreichen diese Vorwürfe offenbar nicht. Im Gespräch mit BuzzFeed News sagt Lorenz Maroldt, dass ihn das sehr beschäftige. „Warum erfahre ich solche Vorwürfe nicht, obwohl ich für mich in Anspruch nehme, dass ich sowas sofort ernst nehme und auch bekannt dafür bin, dass ich mich im Haus um Probleme, die auftauchen, sofort kümmere und sie nicht abtue?”, so Maroldt. „Warum kommt jemand nicht zu mir?“

    Auch zu einer Konfrontation des Kollegen innerhalb der Belegschaft kam es über die Jahre offenbar nicht. Männliche Mitarbeiter des Tagesspiegel, die von seinem Verhalten wissen und es problematisch finden, seien davon überzeugt, dass das Thema von den Betroffenen selbst angebracht werden müsse, schreibt der langjährige Mitarbeiter. „Diese Ideen scheiterten immer daran, dass jeweils die Frau, die gerade aktuell oder als letztes betroffen war, zu Recht Angst vor den Konsequenzen hatte. Dass dann nämlich ihre Karriere vorbei wäre oder dass man ihr nicht glauben würde.“

    Im Nachhinein bewerte er diese Einschätzung als falsch. „Natürlich wäre es auch die Verantwortung der männlichen Kollegen gewesen, den Reporter zu stoppen und dieser Verantwortung bin ich nicht nachgekommen.“

    Die Verunsicherung, wie mit den Vorwürfen umzugehen ist, und die Angst, die eigene Position im Tagesspiegel zu gefährden, sitzt bei vielen Gesprächspartnern tief. Eine Mitarbeiterin, die sich zunächst zu einem Interview mit BuzzFeed News trifft und einen Teil der Schilderungen der Frauen bestätigt, die in diesem Artikel zu Wort kommen, meldet sich tags darauf und möchte selbst vollständig anonymisiert nicht mehr in diesem Artikel auftauchen. Auch, weil sie nicht möchte, dass dem Tagesspiegel insgesamt ein Schaden entsteht.

    Der Tagesspiegel gilt als sehr familiär geführte Redaktion, viele festangestellte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten seit fast einem Jahrzehnt zusammen. Auch der Reporter ist seit Mitte der 90er Jahre bei der Zeitung. Mindestens zwei Frauen gegenüber soll er behauptet haben, dass er die Macht habe, Einfluss darauf zu nehmen, ob sie oder Kolleginnen weiter beim Tagesspiegel beschäftigt sind. Unabhängig davon, ob das stimmt, empfinden die Frauen seine Äußerungen als Einschüchterungsversuche.

    Der Reporter selbst erwidert darauf: „Das würde ich nie machen. Davon abgesehen, dass das wirklich völliger Blödsinn ist, habe ich auch keine Machtposition.“ Er sei zwar bis vor wenigen Jahren Leiter eines Ressorts gewesen, würde diese Position aber nie ausnutzen. Heute sei er Reporter und habe keinen redaktionellen Einfluss. Bis zum August 2018 ist sein Vorgesetzter Stephan-Andreas Casdorff, mittlerweile Herausgeber des Tagesspiegel.

    Casdorff führt bereits 2012 ein Gespräch mit Theresa, vermittelt wurde dieses durch den mittlerweile verstorbenen ehemaligen Ressortleiter der Seite Drei. Dieser habe ihr Anliegen als einziger ernst genommen, sagt Theresa. Das liegt vielleicht daran, dass der Ressortleiter noch von einer weiteren Frau wusste, die das Verhalten des Reporters ihr gegenüber als sexuelle Belästigung empfand. BuzzFeed News hat mit dieser weiteren Frau gesprochen, sie bestätigt ein Gespräch mit dem ehemaligen Ressortleiter.

    Bei dem Gespräch mit Casdorff habe sie sich „äußerst unwohl“ gefühlt, sagt Theresa. „Ich erinnere mich nur an den Satz: Was ich ihm [dem Reporter] denn getan hätte, dass er sich mir gegenüber so verhalten würde.“ Sie sei daraufhin in Tränen ausgebrochen und habe nichts mehr sagen können. Casdorff habe ihr versichert, dass er sich kümmern werde und dafür sorge, dass der Reporter ihr nichts tun könne.

    In einer Mail an BuzzFeed News schreibt Herausgeber Casdorff bezüglich des Gesprächs, dass er sich nach so langer Zeit nicht an jedes Detail erinnere: „Aber genau so, wie Ihre Quelle sich erinnert, weiß ich, dass ich gewiss nicht gefragt habe, was denn sie dem Kollegen „getan“ habe“.

    Lorenz Maroldt sagt, er erinnere sich an den Fall, die Mitarbeiterin habe sich laut dem Ressortleiter verfolgt und bedrängt gefühlt. Die Chefredaktion habe den Ressortleiter der Seite Drei, dazu aufgefordert, mit dem Reporter zu sprechen. Der Mann bestätigt, dass ein Gespräch mit dem Ressortleiter stattgefunden habe. Er habe gesagt, dass es ihm leid tue und er versuche, die Probleme mit Theresa auszuräumen.

    Die Chefredaktion habe danach nichts mehr von Vorwürfen gegen den Reporter gehört, so Maroldt: „Bis ich mitbekommen habe, dass es eine Recherche gibt.“


    Auch vom Betriebsrat heißt es, dass dort nie Beschwerden gegen den Reporter vorgetragen worden seien. Der Vorsitzende des Betriebsrates schreibt auf Anfrage von BuzzFeed News: „Dem Betriebsrat sind keine Beschwerden bezüglich sexueller Belästigung zugegangen.“

    Doch für den langjährigen Mitarbeiter, der Vorwürfe gegen den Reporter erhebt, heißt das nicht viel. Er schreibt BuzzFeed News, der Betriebsrat sei ohnehin keine gute Anlaufstelle für ein solches Problem und der Betriebsratsvorsitzende dafür bekannt, Witze über Frauen zu machen: „Viele nennen ihn misogyn. Es war klar, dass ein Betriebsrat unter dieser Führung völlig unbrauchbar war, hier zu helfen.“

    Auch eine weitere Journalistin, die mit BuzzFeed News für diese Recherche gesprochen hat, sagt, ihr sei von älteren Kolleginnen abgeraten worden, sich an den Betriebsrat zu wenden. „Es gibt immer wieder Berichte von wüsten Schimpfwörtern gegenüber Frauen, die er in seinem Ressort geäußert haben muss“, sagt sie. Sie habe dies nicht selbst erlebt, allerdings hätten ihr Frauen, die der Betriebsratsvorsitzende so beschimpft haben soll, persönlich davon erzählt. „Man würde so jemandem einen ähnlichen Fall nicht anvertrauen“, so die Frau.

    Zwei Journalistinnen, mit denen BuzzFeed News für diese Recherche gesprochen hat, sprechen zudem von „Buddy-Netzwerken“ im Tagesspiegel, die es schwer machten, Grenzüberschreitungen anzusprechen. Angesprochen auf den Betriebsratsvorsitzenden als mögliche Vertrauensperson sagt eine von ihnen: „Zu dem willst du nicht gehen.“

    Auf die Vorwürfe, welche ihn persönlich betreffen, ging der Betriebsratsvorsitzende in seiner Antwort nicht ein.

    Chefredakteur Lorenz Maroldt sagte, nicht zuletzt die von Frauen geäußerten Bedenken gegenüber dem Betriebsrat hätten die Entscheidung nahegelegt eine Ombudsstelle zu schaffen: „Natürlich hat auch das die relativ schnell gefasste Entscheidung die Institution einer Ombudsfrau zu gründen, befördert.“

    Wenn der Betriebsrat offensichtlich nicht von allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in allen Belangen als erste Institution verstanden würde – aus welchen Gründen auch immer – dann läge es nahe, dass man eine weitere Institution gründen müsse, so Maroldt. „Mit der Ombudsfrau hoffe ich, dass wir die Gelegenheit haben [...] die Auslöser der Vorfälle direkt zu konfrontieren und nicht erst Jahre später, was ich sehr bedaure.“

    „Wir Journalisten sind extrem gut darin, Missstände in anderen Branchen zu erkennen und anzuprangern. Wir sind aber leider sehr blind, was die eigene Branche betrifft.“

    Paula, der der Reporter im Taxi an die Brust gefasst haben soll, ist noch immer beim Tagesspiegel. Etwa ein halbes Jahr vor dem Gespräch mit BuzzFeed News sei sie abends noch spät in der Redaktion gewesen und habe mit dem Reporter gesprochen. Dieser habe sie gefragt, was sie noch dort mache, sie solle nach Hause gehen. Sie habe gesagt, dass ihr Freund sie bald abhole. Als sie kurz darauf auf die Toilette geht, muss sie am Büro des Reporters vorbei. „Er kam mir entgegen und sagte: Du wolltest weg. Und dann fuhr er mir mit beiden Händen durch die offenen Haare, so wirklich von oben bis unten. Jeder Typ, der das machen würde, in der Disco oder in der U-Bahn, dem würde ich eine reinhauen“, sagt sie. Sie sei aber so perplex gewesen, dass sie es habe geschehen lassen. Sie sei dann ins Bad gegangen und sehr aufgebracht gewesen. „Weil ich gedacht habe, ich kann das doch als langjährige Redakteurin nicht einfach so geschehen lassen.“

    Ein Freund, der sie an diesem Abend von der Arbeit abholt, bestätigt BuzzFeed News gegenüber, dass Paula ihm sofort nach Eintreffen gesagt habe, dass ihr „etwas Krasses“ passiert sei. Sie habe ihm gesagt, dass der Reporter ihr mit beiden Händen durch die Haare gefahren sei. Sie sei nicht ängstlich gewesen, aber konsterniert, dass der Mann sich so etwas traue. Der Freund sagt, er sei sich sicher, dass es nach 20 Uhr gewesen sein muss, da er Paula sonst nicht abgeholt hätte.

    Der Reporter bestreitet, dass es zu einer solchen Situation gekommen sei. Im Gespräch mit BuzzFeed News sagt er: „Ich kann nicht ausschließen, dass ich jemandem mal durch die Haare gefahren habe. Aber mit Sicherheit nicht mit beiden Händen und mit Sicherheit nicht spät abends.“

    Paula sagt, sie habe noch immer das Gefühl, dass solche Vorfälle zusammen addiert schlimm seien, sie aber bei jedem einzelnen Bedenken habe, dass sie in den Augen anderer zum „Problemfall“ werden könnte, sollte sie offen darüber sprechen.

    „Es ist gut, wenn dieser Fall öffentlich wird und die MeToo-Debatte dann hoffentlich auch in anderen Verlagen ausbricht“, schreibt der langjährige Mitarbeiter. „Denn wir Journalisten sind extrem gut darin Missstände in anderen Branchen zu erkennen und anzuprangern. Wir sind aber leider sehr blind, was die eigene Branche betrifft.“


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