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Hass auf Schwule: In Bremen werden einem Mann fast 70 Straftaten vorgeworfen

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Monatelang terrorisierte eine Person junge Männer aus homofeindlichen Motiven, BuzzFeed News berichtete. Nun hat der Prozess gegen den mutmaßlichen Stalker begonnen.

Als der mutmaßliche Täter in den Gerichtssaal kommt, trägt er Handschellen und verdeckt sein Gesicht mit einer roten Aktenmappe. Der 31-Jährige redet nur wenig, mit einer leisen, hohen Stimme. Kein einziges Mal blickt er während der mehrstündigen Verhandlung zur Zuschauerbank, wo Pressevetreter*innen sitzen und Angehörige der Opfer.

Seit September vergangenen Jahres sitzt der 31-Jährige in Untersuchungshaft, für 68 Taten ist er angeklagt. Zehn davon wiegen besonders schwer: Die Taten betreffen vier junge homosexuelle Männer, die er über Monate terrorisiert haben soll.

Einer der vier homosexuellen Männer ist Max O. Vor einem Jahr berichtete BuzzFeed News Deutschland über seinen Fall, einen der wohl drastischsten Fälle von Homofeindlichkeit der vergangenen Jahre. Max O. bekam hunderte Nachrichten auf Facebook, SMS, durch technische Manipulationen wurden Morddohungen über seine Telefonnummer verschickt und Konzert- oder Fußballkarten auf Ebay in seinem Namen über Fake-Profile verkauft.

Die Mutter von Max O. erhielt anonyme Anrufe, auch seine Freunde wurden terrorisiert, einmal standen Feuerlöschzüge vor seinem Zuhause. In der Stadt wurden Plakate mit einem Bild von ihm aufgehängt, auf denen steht: „JA ICH BIN SCHWUL UND DAS IST AUCH GUT SO.“ Max O. ist zu der Zeit noch Schüler, steht kurz vor seinem Abschluss. Eine Pizza wird für ihn an seine Schule geliefert, dann ein Trauerkranz, mit einer Nachricht: „wir trauern um max o.“

Max O.

Portrait of Max (22)
Portrait of Max (22) © Charlotte Schmitz

Tatvorwürfe: von Nötigung bis zu Raub

Das Ausmaß des Hasses ist schwer zu begreifen, die Liste der Tatvorwürfe lang. Dem mutmaßlichen Täter werden unter anderem Störung des öffentlichen Friedens, Volksverhetzung, Nötigung, Bedrohung, Raub/Räuberische Erpressung und Urkundenfälschung vorgeworfen.

Die nicht-endende Masse an wirren Nachrichten, Drohungen, Beleidigungen, Zwangsouting, das Netz an Fake-Profilen und Betrügereien überforderten offenbar auch die Strafverfolgungsbehörden. Immer wieder ging Max O. zur Polizei, immer wieder fühlte er sich alleine gelassen. Über drei Jahre wartete der junge Mann auf den Prozessbeginn. „Wie ein Puzzle“, seien die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Täter gewesen, sagte der Pressesprecher des Amtsgerichts Bremen am Mittwoch. Die Erkenntnisse hätten sich nur stückchenweise zusammensetzen lassen.

Außer Max O. sind drei weitere junge schwule Männer betroffen von den „Nachstellungen“, so das offizielle Strafdelikt. Fast eineinhalb Stunden liest die Staatsanwältin die Anklageschrift vor, in denen sich Taten und Wortlaut wiederholen, aber immer wieder auch brutal hervorklingen. Laut Anklageschrift stand in einer Nachricht an einen der vier Männer: „[Name des Opfers] ich werde dich und deine ganze Familie töten, alle werden sterben“. Ein anderes Mal habe der mutmaßliche Täter einen der Betroffenen beim LKA bezichtigt, Kinderpornografie zu besitzen.

Es werden außerdem dutzende Namen von Zeugen verlesen, die offenbar Opfer von Internetbetrügereien durch den 31-Jährigen wurden. Über Chats in Sozialen Medien überzeugte der mutmaßliche Täter offenbar Personen, ihm ihre Handynummern oder Emailadressen mitzuteilen. Mit diesen richtete er in ihrem Namen Internet-Konten auf Ebay ein und verkaufte in ihrem Namen etwa erfundene Konzert- oder Fußballtickets. Das Geld strich er laut eigener Aussage teilweise ein, die Beschwerden der Käufer*innen landeten bei den Betroffenen.

Das Ziel des mutmaßlichen Täters laut Anklageschrift: sich bereichern und die Opfer den Regressforderungen aussetzen.

Für die Opfer muss es die Hölle gewesen sein, sagt die Richterin


Tatsächlich erlebte auch Max O. im Jahr 2016, dass plötzlich wildfremde Menschen zu seiner Schule kamen, fälschlicherweise in seinem Namen dorthin bestellt, um Tickets für ein Fußballspiel abzuholen. Andere davon zu überzeugen, dass er selbst nicht der Täter ist, gehörte in dieser Zeit zu Max’ Alltag. „Bitte nicht auflegen, nicht auflegen! Ich kann das erklären“, habe er zum Beispiel einer fremden Frau flehend ins Telefon gerufen. Das erzählte Max O. BuzzFeed News bereits vor über einem Jahr im Zuge unserer Recherche. Die Frau habe vorgehabt, die Polizei zu rufen, weil sie eine Morddrohung in seinem Namen erhalten habe. Max habe in diesem Moment in der Straßenbahn gesessen, sei von der Schule nach Hause gefahren. Alle Passagiere konnten mithören.

Für die Männer „muss das die Hölle gewesen sein“, sagte die leitende Richterin am Mittwoch. Der Richterin fällt es offenbar schwer, die Motive oder das moralische Bewusstsein des Befragten nachzuvollziehen. Immer wieder stellt sie ihm Fragen: „Haben sie sich mal überlegt, wie es ihnen ginge, wenn das jemand mit ihnen macht? Wenn man sich nirgendwo mehr sicher fühlt?“

Warum das alles?

Der Beschuldigte brachte zum Gerichtstermin offenbar spontan eine handgeschriebene Erklärung mit, die er von seiner Anwältin verlesen ließ. Er sei teilweise mit dem alkoholsüchtigen Partner seiner Mutter aufgewachsen, kaufsüchtig gewesen, dann spielsüchtig, sei bereits zuvor in Untersuchungshaft und Maßnahmen gewesen, habe Sozialstunden geleistet. Über die Betrügereien und Fake-Onlineverkäufe habe er sich teilweise Geld beschafft. Er sei ständig im Internet gewesen. Seinen Hass gegen Schwule könne er sich nur durch seine Zeit im Gefängnis erklären, in der er Erlebnisse gemacht habe, von denen er nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit erzählen wolle.

Es bleibt bis zum Ende der Verhandlung offen, was genau er damit meint.

Der mutmaßliche Täter am Mittwoch vor dem Amtsgericht Bremen
Der mutmaßliche Täter am Mittwoch vor dem Amtsgericht Bremen © Juliane Löffler

Die Taten hätten ihm psychische Entlastung gebracht, sagt der Beschuldigte

Vor allem aber habe er „Stress machen“ wollen, gesteht der 31-Jährige. „Durch das Leid fühle ich mich, als wird mein eigenes Leid gemindert.“ Heute könne er sich das nicht mehr erklären, es tue ihm unendlich leid. Die Straftaten gestand er am Mittwoch weitgehend. Auch eine Bombendrohung gestand er, die in einer Rewe-Filiale in Bremen gemacht habe. Danach wurde laut Anklageschrift das Viertel weiträumig abgesperrt, ein Altenheim musste geräumt werden. Er wohnte in der Nachbarschaft, er habe die Folgen der Tat direkt mitbekommen, sagte er. Die Taten hätten ihm damals für kurze Zeit psychische Entlastung gebracht, sagte er.

„Sie haben richtig viel Aufwand betrieben, nur damit es anderen schlecht geht“, fasste Richterin Freter zusammen, „völlig wahllos“ habe er sich Opfer ausgesucht. Sie fragte den mutmaßlichen Täter auch, wie genau er vorgegangen sei. Der 31-Jährige erzählte von Webseiten, über die man Anrufe unter einer anderen Nummer tätigen könne. So habe er etwa Morddrohungen im Namen seiner Opfer verbreiten können, damit diese verdächtigt würden. Wie das geht, das habe er in Youtube-Videos gesehen.

Er sei ständig im Internetcafé gewesen, „für sechs Euro am Tag“. Was für Videos er sich dort angeschaut habe, fragte die Richterin. „Leute verarschen“, sagt der Mann.

Schuldfähigkeit wird neu geprüft

Nach einigen Stunden Verhandlung unterbrach die psychologische Sachverständige am Mittwoch die Vernehmung. Der 31-Jährige hatte vor dem Termin nicht mit ihr gesprochen. Durch seine Aussage im Prozess sei ihr Gutachten nun nicht mehr aktuell, sie müsse es überarbeiten.

Noch am Mittwoch gab das Amtsgericht bekannt, dass die Gutachterin ihre vorläufige Bewertung abändern wird und nun von einer „psychischen Störung relevanter Art“ ausgeht. Es soll also noch einmal geprüft werden, ob der Mann voll schuldfähig ist – oder er in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden muss. Darüber jedoch kann nur das Landgericht entscheiden.

Die Staatsanwaltschaft hat deshalb bereits beantragt, das Verfahren auszusetzen und an das Landgericht Bremen zu verweisen – es komme eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht. Die bisherigen geplanten elf Verhandlungstermine wären damit hinfällig, der Prozess müsste neu geplant werden. Ob das passiert, wird am 20. Januar 2020 entschieden. Für Max O. würde es bedeuten, weiter zu warten.

BuzzFeed News Deutschland wird weiter über den Prozess berichten. Für Updates kannst du uns zum Beispiel auf Twitter folgen, wo wir diesen Thread in den kommenden Monaten mit neuen Informationen und Links zu unseren Texten erweitern werden.

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UPDATE

23.01.2020, 14:20

Am Dienstag dieser Woche wurde der Fall vom Amtsgericht an das Landgericht Bremen überwiesen, der Beschuldigte wurde aus der Untersuchungshaft in ein psychiatrisches Krankenhaus überwiesen. Das Gericht vermutet nach den Angaben der Sachverständigen, dass der Angeklagte die Taten „im Zustand zumindest verminderter Schuldfähigkeit begangen habe“.

Wann die Verhandlung fortgesetzt wird, kann das Landgericht auf Anfrage derzeit noch nicht mitteilen.

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