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Diese Krankenschwester hat sich krank gearbeitet – und kämpft seit Jahren vergeblich um Entschädigung

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„Ich finde das menschenverachtend, wie die mit einem umgehen.“

Andrea Heider ist 61 Jahre alt und kann nicht mehr als Krankenschwester arbeiten. Sie sagt, ihre Arbeit habe sie krank gemacht. Seit fast vier Jahren wartet sie auf eine Entschädigung der Berufsgenossenschaft.
Andrea Heider ist 61 Jahre alt und kann nicht mehr als Krankenschwester arbeiten. Sie sagt, ihre Arbeit habe sie krank gemacht. Seit fast vier Jahren wartet sie auf eine Entschädigung der Berufsgenossenschaft. © Charlotte Schmitz für BuzzFeed News

Mitarbeit: Sanaz Saleh-Ebrahimi

Andrea Heider ist 61 Jahre alt und kommt schon seit Jahren nicht mehr ohne Schmerzmittel durch den Tag. Vier Jahrzehnte hat Heider als Krankenschwester gearbeitet. Es geht ihr wie vielen ihrer Kolleginnen, die den Job nicht ein Leben lang machen können – weil er zu belastend ist.

Heute will sie von der Berufsgenossenschaft für ihre Krankheit entschädigt werden, denn für sie ist klar: So kaputt ist ihr Rücken nur, weil sie so viel und so schwer gearbeitet hat.

Doch die zuständige Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege BGW will nicht zahlen. Seit fast vier Jahren kämpft Heider nun schon darum. Ihr Fall zeigt, was bei der Entschädigung kranker Arbeiter alles falsch laufen kann.

„Am schlimmsten ist es gewesen, Patienten zu lagern, zu heben, zu drehen“, sagt Heider, als BuzzFeed News Deutschland und ZDFzoom sie Ende 2018 in Hamburg treffen. „Teilweise mussten wir sie sogar vom OP-Tisch tragen. Noch halb narkotisiert. In so total schiefen Positionen. Oder nach einem Kaiserschnitt, einer hat sie hochgehoben. Der andere hat den Bauch gewickelt. Das sind Kräfte, die auf einen wirken. Das ist irre.“

Ohne ihre Schmerzmedikamente kommt Andrea Heider nicht mehr durch den Tag.
Ohne ihre Schmerzmedikamente kommt Andrea Heider nicht mehr durch den Tag. © Charlotte Schmitz für BuzzFeed News

Heider arbeitet heute nicht mehr mit Patienten. Das ist für ihren kaputten Rücken zu anstrengend. Stattdessen arbeitet sie als Schwerbehindertenvertretung und setzt die Rechte ihrer Kolleginnen bei ihrem Arbeitgeber durch, der Asklepios Klinik St. Georg in Hamburg. Heider sagt, sie habe mehrere Bandscheibenvorfälle, eine zum Teil verknöcherte Wirbelsäule und Zysten in der Wirbelsäule – alles durch die hohe Belastung. „Ich habe starke Schmerzen im Ischiasbereich. In der Hüfte. In den Knien. Ich kann nicht weit gehen. Ich nehme abends Opiate, damit ich den Tag durchstehen kann.“

Viele Betroffene werden nicht entschädigt

75.000 Menschen beantragen jedes Jahr eine Berufskrankheit bei den Berufsgenossenschaften – um zum Beispiel eine Reha bezahlt zu bekommen oder sogar eine Rente. Ein Viertel dieser Anträge wird genehmigt. Viele Betroffene scheitern an einer Reihe von Hürden im System. Experten kritisieren seit Jahren, dass das Berufskrankheitenrecht an vielen Stellen verbessert werden muss. In diesem Jahr will die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf vorlegen.

Mehr zu den Problemen mit Berufskrankheiten könnt ihr in unserem neuen Schwerpunkt „Krank durch Arbeit“ lesen. Ihr habt Hinweise auf schlechte Arbeitsbedingungen oder Missstände im Arbeitsschutz? Wir recherchieren weiter. Meldet Euch bei uns unter daniel.drepper@buzzfeed.com.

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Der Streit über die Entschädigung von kranken Arbeitnehmern ist ein ungleicher Kampf. Auf der einen Seite stehen die Berufsgenossenschaften. Sie sind verantwortlich für alle Schüler, Studierenden und Beschäftigte in Deutschland, haben ein Jahresbudget von mehr als zehn Milliarden Euro und werden von der gesamten deutschen Industrie finanziert. Je mehr Berufskrankheiten anerkannt werden, desto mehr steigen die Pflichtbeiträge der Unternehmer. Auf der anderen Seite stehen Betroffene wie Andrea Heider. Häufig schon älter. Häufig in schwierigen Lebenssituationen, kurz vor dem Jobverlust oder schon arbeitsunfähig. Und krank.

Andrea Heider erlebt, wie schwer es ist, sich alleine gegen die Berufsgenossenschaft durchzusetzen. Sie verzweifelt an der Bürokratie. „Man hört teilweise von denen gar nichts. Man fragt nach: Was passiert denn jetzt? Dann muss man da 100.000 Formulare ausfüllen. Ich habe gesehen, dass mal 15 Monate überhaupt nichts von denen gekommen ist. Erst als ich denen gedroht habe mit einer Untätigkeitsklage. Da wurde endlich reagiert und es hat sich etwas getan.“

Die zuständige Berufsgenossenschaft BGW schreibt auf unsere Nachfrage, im Verfahren von Andrea Heider „gab es leider unübliche Verzögerungen bei der Bearbeitung, die Frau Heider zu Recht beanstandet hat.“ Das Verfahren von Frau Heider sei kompliziert, weil es um „einen langen Zeitraum mit mehreren beruflichen Stationen“ gehe.

Die Probleme von Andrea Heider sind typisch für Krankenschwestern und Pflegerinnen, sagt Dietmar Erdmeier in einem Telefonat mit BuzzFeed News. Er war bei der Gewerkschaft verdi lange für die Pflege zuständig und kontrolliert jetzt für verdi die Arbeit der zuständigen Berufsgenossenschaft BGW. „Das hat man in der Pflege häufig: Dass sehr viel Gewicht getragen werden muss, häufig in ungünstigen Körperhaltungen.“ Wenn dann noch das Personal fehlt, dass bei solchen Belastungen aushelfen könnten, litten die Pflegerinnen oft besonders, sagt Erdmeier.

Über die Zeit würden sich viele Frauen in der Pflege kaputt arbeiten. Häufig zeigten diese dann mit 55 oder 60 Jahren eine Berufskrankheit an. Weil die Betroffene stets in der Beweispflicht ist, müsse der gesamte Krankheitsverlauf der Antragstellerin bestmöglich dokumentiert sein. Doch das sei oft schwierig. „In unserer Branche ist das ja ganz häufig so, dass man eher nicht zum Arzt geht, weil man am nächsten Tag wieder gebraucht wird“, sagt Erdmeier. „Es ist signifikant, dass wir in diesen Tätigkeiten eine hohe Anzahl von Menschen mit derartigen Leiden haben.“

Intensive Beratung gibt es nur für wenige Betroffene

Durch Zufall erfährt Andrea Heider von der Beratungsstelle „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg. Die hilft ihr jetzt durch das komplizierte Verfahren. Finanziert wird die Beratungsstelle von der Stadt Hamburg; sie ist eine der wenigen unabhängigen Beratungsstellen in Deutschland.

Andrea Heider im Gespräch mit ihrem Berater von der Beratungsstelle „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg.
Andrea Heider im Gespräch mit ihrem Berater von der Beratungsstelle „Arbeit und Gesundheit“ in Hamburg. © Charlotte Schmitz für BuzzFeed News

„Die Umgangsweise mit der Versicherten war an verschiedenen Stellen ungünstig
und teilweise auch nicht dem rechtlichen Vorgehen (...) im Einklang“, schreibt der Leiter der Hamburger Beratungsstelle, Michael Gümbel, auf Anfrage von BuzzFeed News. Gümbel kritisiert vor allem, dass die Berufsgenossenschaft nicht anständig ermittelt habe, wie schwer Andrea Heider wirklich gearbeitet hat. Zunächst habe es überhaupt keine Ermittlungen gegeben, danach habe die Berufsgenossenschaft nur in Heiders Krankenhaus angerufen. Niemand habe die Arbeitsbedingungen vor Ort überprüft.

Michael Gümbel, fordert mehr Unterstützung für die Betroffenen. Denn ohne Hilfe würden viele Menschen von der Bürokratie der Berufsgenossenschaften abgeschreckt, von den umfangreichen Formularen, die – so sagt Gümbel – oft schwer zu verstehen sind. „Es baut sich so ein großes Ohnmachtsgefühle auf, dem ganzen Gesundheitssystem gegenüber“, sagt Gümbel im Gespräch mit BuzzFeed News und ZDFzoom in Hamburg. Die Betroffenen hätten das Gefühl, „sie müssten dafür entschädigt werden, dass sie ihrem Arbeitgeber quasi ihre Gesundheit geopfert haben.“ Das mache den Betroffenen extrem zu schaffen. „Die sind dann oft in einer Abwärtsspirale drin, weil sie sich so hilflos fühlen.“

Doch für die Beratung von Berufskrankheiten-Anzeigen in Hamburg ist weniger als eine Vollzeitstelle vorgesehen. Zuletzt konnten dort deshalb pro Jahr nur etwa ein Dutzend Menschen beraten werden – bei 1000 Anträgen, allein in Hamburg, jedes Jahr.

Andrea Heider hat Glück gehabt, sie bekommt Hilfe von der Hamburger Beratungsstelle. Und wehrt sich gegen die Berufsgenossenschaft BGW. Diese hatte ihren ursprünglichen Antrag bereits einmal abgelehnt, Heider legte Widerspruch ein – und bekam Mitte Januar 2019 ein weiteres Schreiben: Die BGW hatte nun zwar ermittelt, dass Heider genug gearbeitet hat, um entschädigt zu werden. Trotzdem lehnte sie den Widerspruch der ehemaligen Krankenschwester ab.

Denn: Der medizinische Gutachter, der bestätigen soll, dass ihre Rückenprobleme tatsächlich von der Arbeit kommen, stellte sich quer. „Meine Wirbelsäule sei zwar kaputt, aber das seien normale, altersentsprechende Erkrankungen“, sagt Heider im Telefonat mit BuzzFeed News. Die BGW schreibt Heider daraufhin, sie sehe „keine Möglichkeit Ihrem Widerspruch abhelfen zu können.“ Das Schreiben liegt BuzzFeed News vor.

In der Beratungsstelle wird die Arbeit der Berufsgenossenschaft überprüft.
In der Beratungsstelle wird die Arbeit der Berufsgenossenschaft überprüft. © Charlotte Schmitz für BuzzFeed News.

Heider kann das nicht verstehen. „Ich kenne viele in meinem Alter, die haben alle nicht solche Rückenbeschwerden. Ich möchte niemandem wünschen, solch einen Rücken zu haben“, sagt Heider in einem Telefonat mit BuzzFeed News Ende Januar 2019. Der Besuch beim Gutachter ist gerade drei Wochen her, sie kann sich noch genau erinnern. „Ich habe vorher auf die Uhr geschaut und danach meinen Kindern direkt eine WhatsApp geschrieben. Ich war da höchstens 15 Minuten drin. Mit reingehen, ausziehen, Untersuchung, anziehen, besprechen“, sagt Heider. Der Gutachter habe in seinem Schreiben Untersuchungen angeführt, die er gar nicht mit ihr gemacht habe.

Fehler im Gutachten der Berufsgenossenschaft

Gutachter Ulf Thiebe vom „Medizinischen Gutachteninstitut“ in Hamburg schreibt, der „Zehenspitzen- und Fersenstand sind ebenso sicher wie Zehenspitzen- und Fersengang vorführbar“. Heider widerspricht. „Ich kann gar nicht auf Zehenspitzen gehen. Ich hatte acht Fuß-Operationen und einen Mittelfußbruch, der übersehen wurde“, sagt Heider.

Thiebe schreibt auch: „Eine Kniehockstellung wird hälftig eingenommen, das Aufrichten erfolgt kraftvoll aus beiden Beinen heraus.“ Heider sagt, sie habe sich seit Jahren nicht mehr hingehockt. „Ich kann das gar nicht mehr.“

Thiebe bemängelt, dass es vor Heiders Wechsel von der Pflege in die Beratung im Jahr 2014 keine beweisbaren bandscheibenbedingten Erkrankungen gegeben habe. Übersetzt: Es wird Heider negativ ausgelegt, dass sie vor dem Einreichen Ihrer Berufskrankheit keine entsprechenden medizinischen Untersuchungen vornehmen lassen hat.

Auf Anfrage von BuzzFeed News äußert sich Thiebe nicht zu den Vorwürfen. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir zu Ihrer Anfrage sowohl aus Gründen der Schweigepflicht als auch aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht Stellung nehmen können“, schreibt der Gutachter. Er verweist auf die Berufsgenossenschaft als Auftraggeber für das Gutachten, an diese solle sich Andrea Heider doch wenden.

Die Hamburger Beratungsstelle kritisiert das medizinische Gutachten von Ulf Thiebe. Das Gutachten habe „etliche Mängel“, es würden Kriterien nicht geprüft und medizinische Befunde nicht einbezogen.

Insgesamt, so das Ergebnis des Gutachtens, sei „eine Minderung der Erwerbsfähigkeit zu keinem Zeitpunkt eingetreten“. „Und das, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich die letzten Jahre auf Station nur mit starken Schmerzmitteln überstanden habe und froh bin, dass ich als Schwerbehindertenvertretung fern von Station arbeiten kann“, sagt Heider im Telefonat mit BuzzFeed News.

Im Gutachten für Andrea Heider steht, dem Gutachter habe keine Ermittlung der Arbeitsbelastung vorgelegen. Diese genaue Analyse der Belastung von Andrea Heider in den vergangenen Jahrzehnten ist eine wichtige Grundlage für ein solches Gutachten. Die Berufsgenossenschaft BGW hatte genau eine solche Ermittlung im Oktober 2018 durchgeführt, sie liegt BuzzFeed News vor. Die Ermittlung hatte ergeben, dass Heider ein Drittel mehr gearbeitet hatte, als für eine Anerkennung benötigt. Warum wurde dies dem Gutachter nicht mitgeteilt?

Die BGW-Presseprecherin schreibt auf Anfrage lediglich, sie sei dabei, „die offenen Fragen zum Gutachten zu klären“. Das Widerspruchsverfahren von Frau Heider laufe noch, es sei noch keine abschließende Entscheidung gefallen. „Die von Ihnen geschilderte Kritik Frau Heiders an dem Gutachten, die uns bislang nicht bekannt war, werden wir mit den Beteiligten zu klären versuchen und das weitere Vorgehen mit Frau Heider besprechen.“

„Menschenverachtend, wie die mit einem umgehen“

Nach der Anfrage von BuzzFeed News meldet sich die BGW am 6. Februar 2019 noch einmal bei Andrea Heider, erbittet weitere Informationen und Untersuchungsergebnisse. Heider schickt die Informationen gleich am nächsten Tag. Seitdem hat sie von der BGW nichts mehr gehört.

Andrea Heider kämpft weiter. „Meine Familie hat gesagt: Mach weiter, lass es Dir nicht gefallen.“
Andrea Heider kämpft weiter. „Meine Familie hat gesagt: Mach weiter, lass es Dir nicht gefallen.“ © Charlotte Schmitz für BuzzFeed News

Mittlerweile hat Andrea Heider das Gefühl, die Berufsgenossenschaft sei ihr Gegner. Sie fühlt sich, als sei sie nicht über den Staat abgesichert, sondern privat bei einer Versicherung wie der Allianz. „Ich finde das menschenverachtend, wie die mit einem umgehen.“

Michael Gümbel von der Hamburger Beratungsstelle trifft immer wieder auf solche Probleme bei den Berufsgenossenschaften. „Diese Fehler in der Kommunikation und im Vorgehen bei den Ermittlungen und Gutachten kommen aus unserer Sicht schon regelmäßig vor“, schreibt Gümbel. Fälle wie der von Andrea Heider zeigen laut Gümbel, wie schwierig es nicht nur für Versicherte, sondern auch für Rechtsanwältinnen und Richterinnen ist, die auf sorgfältige Gutachten angewiesen seien.

Sollte die Berufsgenossenschaft Andrea Heiders Antrag endgültig ablehnen, bleibt ihr nur der Gang vor Gericht. Über die Probleme von Betroffenen bei Verfahren vor den Sozialgerichten hatte BuzzFeed News in dieser Recherche berichtet. „Meine Familie hat gesagt: Mach weiter, lass es Dir nicht gefallen“, sagt Heider. „Ich werde nicht nachgeben.“

UPDATE

18.03.2019, 21:16

In einer früheren Version dieses Textes hatten wir geschrieben, dass Dietmar Erdmeier im Bundesvorstand der Gewerkschaft verdi ist. Das ist nicht richtig, wir haben den entsprechenden Halbsatz gelöscht.

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