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Silvesternacht in Connewitz: Drei Videos und zahlreiche Zeugen werfen neue Fragen auf

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Recherchen von BuzzFeed News Deutschland dokumentieren Angriffe der Polizei und einen unkoordinierten Einsatz in der Silvesternacht.

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Polizeibeamte preschen in eine Menschengruppe, schlagen und treten auf einzelne Personen ein. Andere Beamte ziehen einen Mann an seinen Haaren aus der Menge, ein Polizist tritt nach ihm, dann führt die Polizei ihn ab. Mitten auf der Straßenkreuzung liegt ein Mensch, er ist offenbar bewusstlos. Polizisten gehen an ihm vorbei. Ein Beamter steigt über den Mann, ohne sich um ihn zu kümmern.

Es sind bisher unbekannte Szenen aus der Silvesternacht in Leipzig-Connewitz, die BuzzFeed News Deutschland rekonstruieren kann. Sie stammen aus drei Videos, die unseren Reportern in den vergangenen Tagen über verschiedene Personen zugespielt wurden sowie aus Gesprächen mit 15 Augenzeugen und drei Menschen, die angeben, von Polizeigewalt betroffen zu sein. Die vollen Namen und Kontaktdaten aller Augenzeugen, Betroffenen und Urheber der Videos sind BuzzFeed News – mit Ausnahme eines Video – bekannt.

Die Recherchen zeichnen ein detaillierteres Bild der Nacht, über deren genauen Ablauf die Öffentlichkeit seit Tagen streitet. Sie zeigen, dass die Polizei in Teilen unkoordiniert und aggressiv vorgegangen ist, dass sie offenbar nötige Hilfeleistungen unterlassen hat – und dass eine Reihe von Menschen Opfer von Polizeigewalt geworden sind.

Die Polizei Leipzig schrieb auf Anfrage der Reporter, die Vorwürfe seien bisher nicht aktenkundig und könnten daher weder bestätigt, noch dementiert werden.

Tagelange Diskussionen um Eskalation an Silvester

In der Silvesternacht standen in Leipzig-Connewitz etwa 1000, meist friedlich feiernde Personen insgesamt 250 Bereitschaftspolizisten gegenüber. Nach Mitternacht eskalierte die Situation. Eine handvoll Angreifer ging brutal auf Polizeibeamte los, wohl um eine Festnahme zu verhindern. Teilweise vermummte Menschen warfen mit Gegenständen und Feuerwerksraketen auf Polizisten, ein Einkaufswagen brannte und ein Angreifer sprang einem Polizisten mit einem Tritt ins Genick.

Kurz nach einer ersten Auseinandersetzung gegen 0.15 Uhr in der Nacht wurde ein 38-jähriger Polizist ins Krankenhaus eingeliefert und am Ohr operiert. Die Polizei hatte zunächst von einer lebensgefährlichen Verletzung gesprochen, der Polizist sei notoperiert worden. Diese Beschreibungen stellten sich im Nachhinein als offenbar übertrieben heraus. Die Staatsanwaltschaft Leipzig ermittelt weiterhin wegen versuchten Mordes. Drei weitere Beamte wurden in dieser Nacht leicht verletzt.

Gegen insgesamt 13 Beschuldigte wird nun wegen verschiedener Ereignisse in der Silvesternacht ermittelt. Ein 27-jähriger Straßenkünstler ist bereits am Mittwoch in einem Eilverfahren zu sechs Monaten auf Bewährung wegen Angriff auf Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung verurteilt worden, weil er einem Polizisten ein Bein gestellt hatte. Das Gericht stellte fest, dass der Verurteilte nichts mit dem Gewaltausbruch und dem Angriff auf den schwerverletzten Polizisten zu tun hatte. Er lebt erst seit Kurzem in Leipzig und war, laut eigener Aussage, allein nach Connewitz gefahren, weil er gehört habe, man könne dort viel Feuerwerk sehen.

Aussagen der Polizei scheinen widerlegt zu sein

Die Polizei in Sachsen hatte noch in der Silvesternacht eine Pressemitteilung verschickt, in der es hieß, „eine Gruppe von Gewalttätern versuchte einen brennenden Einkaufswagen mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben“. In einem Interview mit ZEIT ONLINE sprach der Leipziger Polizeipräsident Torsten Schultze von „einem geplanten und organisierten Angriff“ einer Gruppe von 20 bis 30 Personen. Teile dieser Aussagen waren bereits Anfang der Woche durch Recherchen von ZEIT ONLINE in Frage gestellt worden.

Mehrere Betroffene zeichnen nun in Gespräch mit BuzzFeed News das zum Teil aggressive Auftreten der Polizei detailliert nach und berichten von schweren Verletzungen, die ihnen von Polizisten zugefügt worden seien.

Wenn Du selbst Opfer von Polizeigewalt geworden bist, kannst Du Dich unter recherche@buzzfeed.com an die Redaktion wenden. Unsere Reporter*innen sind auch verschlüsselt über Signal und PGP sowie über einen sicheren, anonymen Briefkasten zu erreichen.

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Faustschläge und ein ausgerissenes Piercing

Auch Laura N. war in dieser Nacht mit ihrem Partner und einigen Freunden an die zentrale Straßenkreuzung des Wohnviertels im Leipziger Süden gekommen, um ins neue Jahr zu feiern. Sie kann noch immer nicht glauben, was dann passiert ist. Rund eine Woche nach den Ereignissen sitzt sie in ihrer Wohnung im Norden von Leipzig, kilometerweit entfernt vom als links geltenden Connewitz.

BuzzFeed.de © Screenshot BuzzFeed News / Via Facebook: felix.schimanski.3

„Auf einmal hatten wir einen ganzen Trupp Polizisten vor uns stehen“, sagt sie, „dann ging alles ganz schnell.“ Aus der Reihe der Einsatzkräfte habe sie ein lautes „Nehmt alles mit!“ gehört, dann seien Polizisten in die Menge gestürmt. Unabhängig von Laura N. berichten BuzzFeed News gegenüber mehrere weitere Zeugen von diesem Ruf. Polizisten hätten Laura N. dann gepackt und zu Boden gerissen, ein Beamter habe ihr mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Als ihr Lebensgefährte David K. dazwischen gehen will, sei er an den Haaren von ihr weggezogen und abgeführt worden, sagt sie. Von ihrem Freund sei nur ein ausgerissener Zopf zurückgeblieben. David K. habe den Rest der Silvesternacht mit einem blauen Auge in einer Zelle verbracht.

Laura N. hat ein fünfseitiges Gedächtnisprotokoll über die Ereignisse der Nacht angefertigt, das BuzzFeed News vorliegt. Es deckt sich in zentralen Punkten mit einem vor wenigen Tagen öffentlich gewordenen Video. Dieses Video zeigt zweieinhalb Minuten lang das Geschehen gegen 1:15 Uhr auf der zentralen Straßenkreuzung des Wohnviertels im Leipziger Süden – also eine Stunde nachdem der Polizist schwer verletzt wurde. Es ist offensichtlich aus einem Gebäude von oben gefilmt. Die Situation ist unübersichtlich, Menschen schreien, im Hintergrund hört man berstendes Glas und Silvesterraketen.

Die Leipziger Volkszeitung hat das Video am Dienstagabend hinter einer Paywall veröffentlicht, das Video ist aber seit vergangenen Samstag auch auf Facebook zu finden. Nach der Veröffentlichung durch die Leipziger Volkszeitung suchte die Polizei den Urheber des Videos auf und zwang ihn zur Herausgabe seines Handys. Das berichtete der Urheber im Gespräch mit BuzzFeed News.

BILD bringt Betroffenen mit RAF-Terror in Verbindung

„Ein Polizist hat mir ein Piercing aus dem Ohr geschlagen“, sagt Laura N. Beamte hätten sie erst mehrere Meter über den Platz gezogen und dann überraschend von ihr abgelassen. „Menschen, die ich nicht kenne, haben mich aus dem Geschehen gebracht“, sagt sie. Dies ist in dem Video ebenso zu sehen wie die Festnahme ihres Lebensgefährten.

David K. wird am Neujahrsmorgen aus dem Polizeigewahrsam entlassen, nachdem er seine Version der Ereignisse geschildert hatte. Man habe den zwei Meter großen Mann im blauen Pullover mit jemandem von „der Antifa“ verwechselt, soll ein Beamter gesagt haben. Wegen des Handgemenges bei seiner Festnahme ist er nun wegen eines tätlichen Angriffes auf einen Polizeibeamten angeklagt.

Andreas Loepki von der Polizei Leipzig kann diese Vorwürfe auf Anfrage weder bestätigen noch dementieren, weil sie „bislang nicht aktenkundig“ seien. Die Polizei bittet eventuell Geschädigte darum, sich bei den Ermittlungsbehörden zu melden.

Die Bild-Zeitung hatte nach der Entlassung von David K. ein Foto seiner Festnahme veröffentlicht und darüber getitelt: „Angriffe auf Polizisten durch linksextreme Terroristen – Polizei warnt vor neuer RAF“. Seitdem traut sich der Mann kaum noch vor die Tür, er fühle sich bei jedem seiner Wege argwöhnischen Blicken ausgesetzt, sagt David K.

Viel Polizei und eine gebrochene Nase

Laura N. und David K. sind nicht die einzigen, die mit BuzzFeed News über ihre Probleme mit der Polizei gesprochen haben. Auch Madeleine G. ist in der Leipziger Silvesternacht offenbar Opfer von Polizeigewalt geworden. Ihre Erfahrungen beschreibt sie BuzzFeed News an ihrem Esstisch in ihrer Wohnung im Süden von Leipzig. Sie nippt vorsichtig an ihrem Kaffee und kann noch immer nicht richtig begreifen, was passiert ist. Sie erzählt ruhig und ohne Wut.

Madeleine erinnert sich kaum an Details des Vorfalls, so abrupt war alles wieder vorbei. „Ich stand am Rand, als Polizisten hektisch auf mich zu rannten und auf einmal wurde es schwarz“, sagt sie. Madeleine ist seit rund einer Woche auf Schmerzmittel angewiesen, um die Kopfschmerzen zu ertragen. Auch Tage nach der Silvesternacht ist ihr Gesicht blau geschwollen. Ihre Stirn ist von einer Beule verformt.

Der Krankenhausbericht vom Neujahrsmorgen dokumentiert eine Nasenfraktur, sie ist noch bis Mitte Januar krankgeschrieben. Anzeige gegen die Polizei will Madeleine G. trotzdem nicht erstatten. „Das bringt doch nichts“, sagt sie.

Polizist tritt am Boden liegenden Menschen

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Auf zwei der drei Videos, die BuzzFeed News vorliegen, sind zahlreiche weitere Situationen zu sehen, in denen Polizeibeamte auf Menschen einschlagen oder treten, ohne diese danach festzunehmen. Die beiden Videos überschneiden sich zeitlich und dokumentieren mehrere Minuten gegen 1.15 Uhr in der Nacht, aus unterschiedlichen Perspektiven. An einer Stelle ruft eine Frau: „Ihr seid selbst schuld, wenn das so eskaliert.“ Als ein Mann mit weißen Turnschuhen und Baseballkappe in Richtung eines Polizisten tritt, wird er von vier Beamten zu Boden gebracht. Ein weiterer Polizist läuft zu der Gruppe und tritt den am Boden liegenden. Am Ende ist der Mann von neun Beamten umringt.

Das Video zeigt auch mehrfach Menschen, die von Polizisten zu Boden gestoßen werden oder bereits auf dem Asphalt liegen. Eine Person liegt länger als eine Minute ohne sichtbare Lebenszeichen mitten auf der Kreuzung. Eine Gruppe Bereitschaftspolizisten geht direkt an ihr vorbei, ohne sich um die Person zu kümmern. Einer der Beamten steigt sogar direkt über den leblos wirkenden Körper. Am Ende des Videos leisten zwei Passanten Erste Hilfe.

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Es ist offenbar nicht die einzige bewusstlose Person an diesem Abend. Bereits gegen 0:15 Uhr, als es zu dem Angriff auf den später schwer verletzten Polizisten kam, berichten Zeugen von unterlassener Hilfeleistung. Zwei Beamte hätten demnach einen Mann zu Boden geworfen, auf eine Verkehrsinsel gezogen und liegengelassen. Das hat Stadtrat Thomas „Kuno“ Kumbernuß (Die Partei) als Augenzeuge beobachtet: „Der wurde weggezerrt. Der konnte nicht schreien. Er war weggetreten.” Ein Polizist habe zu Kumbernuß noch gesagt, dass er den Mann gefälligst liegen lassen soll. Der Lokalpolitiker habe die Person dann in die Obhut anderer Zivilisten gegeben.

Vorwürfe unterlassener Hilfeleistung gegen Polizei

Ein weiterer BuzzFeed News namentlich bekannter Zeuge bestätigt Kumbernuß‘ Beobachtungen. Er ergänzt: „Als er lag, habe ich nur gesehen, wie ein Polizist ihm einen richtig harten Schlag auf die rechte Schläfe gegeben hat“, erzählt der Zeuge. Ein weiterer Beamter habe noch zugetreten. „Als die gemerkt haben, dass er bewusstlos ist, haben sie ihn liegen lassen und sind weggegangen.“ Der Zeuge widerspricht der Darstellung, wonach die Polizei zunächst deeskalierend aufgetreten sei. Bereits um 22:30 Uhr, als er in Richtung Kreuz gelaufen sei, habe er in den Seitenstraßen behelmte und teilweise Schild tragende Polizisten gesehen.

Auf die Vorwürfe der unterlassenen Hilfeleistung angesprochen, antwortet Andreas Loepki von der Polizei Leipzig, dass die Pflicht, einzelnen Personen zu helfen, allen Anwesenden zufällt. Beamte hätten eventuell nicht gleich helfen können, weil „Gesichtspunkte der Eigensicherung beachtlich gewesen sein könnten.“

Ein drittes Privat-Video, das BuzzFeed News ebenfalls vorliegt, zeigt einen kurzen Ausschnitt um 0.50 Uhr. Mehrere Polizisten tragen darauf einen Menschen an den Eingang einer Seitenstraße und legen ihn dort ab. „Der ist verletzt, der blutet“, sagt ein Beamter, während er die filmende Person auf Abstand drängt. Kurz ist zu sehen: Der bewusstlose Verletzte am Boden trägt in dieser Situation Handschellen. Nach Informationen von BuzzFeed News wurde mindestens eine verhaftete Person noch in der Nacht ins Krankenhaus eingeliefert und dort für mehrere Tage unter Polizeiaufsicht stationär behandelt.

Die Ereignisse der Silvesternacht in Connewitz hatten bundesweit Diskussionen ausgelöst. Am Donnerstag beantragte die Fraktion der Partei Die Linke im sächsischen Landtag die Aufarbeitung der Silvesternacht in Leipzig-Connewitz. Die Landesregierung soll über die Einsatzplanung der Polizei, die Kommunikationsstrategie und die Umstände, die zur Verletzung von Menschen führten, aufklären.

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