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Interner EU-Bericht: 325.000 Migranten könnten Libyen Richtung Europa verlassen

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Libyen fordert mehr Unterstützung von der EU und droht damit, die Flüchtlingslager zu öffnen.

Gerettete Flüchtlinge an Bord der deutschen Werra am 27. September 2015, als das Bundeswehr-Schiff Teil der Mission SOPHIA war. © Foto: Alberto Pizzoli / AFP - Getty Images

Die EU-Mission „SOPHIA“ warnt in einem internen Bericht vor einer humanitären Katastrophe. Nachdem die libysche Regierung am 17. Juli damit gedroht hatte, die Flüchtlingslager zu öffnen, könnten SOPHIA zufolge bis zu 325.000 Menschen Libyen in Richtung Europa verlassen.

Das geht aus dem jüngsten Halbjahresbericht der Mission hervor, der BuzzFeed News Deutschland exklusiv vorliegt und den wir am Ende dieses Artikels in voller Länge veröffentlichen.

Aus dem Dokument vom 9. Juli geht auch hervor, dass die EU-Mission „SOPHIA“ auf diese Flüchtlinge nicht vorbereitet wäre – seit dem 1. April 2019 hat die Mission keine Schiffe mehr auf dem Mittelmeer. Sie könne so derzeit weder Waffenschmuggler noch Schlepper effektiv überwachen.

„Die zunehmend komplexe Sicherheitssituation in Libyen hat das Potential, Migrationsflüsse ansteigen zu lassen, sobald sich die Lebens- und Sicherheitsbedingungen dort verschlechtern. Die IOM rechnet mit rund 325.000 Menschen, die sich auf eine Reise über See machen könnten, wenn die Bedingungen in Libyen sie dazu zwingen. Zusätzlich könnte es (...) für die lybische Küstenwache und Navy (LCG&N) nötig werden, sich mehr auf innere Stabilität des Landes als auf Menschenschmuggel zu konzentrieren. Sollte es dazu kommen, ist es wahrscheinlich, dass diese Gefahren die Kapazität der LCG&N übersteigen und eine unmittelbare Intervention der Europäischen Gemeinschaft außerhalb der Küste erforderlich würde.” © Screenshot aus dem SOPHIA-Halbjahresbericht.

Dass diese Befürchtungen keine bloße Theorie sind, zeigen die Ereignisse der vergangenen Wochen. Die Sicherheitslage in Libyen hat sich deutlich zugespitzt. Die in Tripolis sitzende und von der EU anerkannte „Nationale Einheitsregierung“ unter Ministerpräsident Fayez Sarraj bekämpft die im Osten stationierte „Libysche Nationalarmee“ des abtrünnigen Ex-Generals Haftar. Zunehmend geraten auch die Flüchtlingslager zwischen die Fronten. Anfang Juli war das Lager in Tajoura aus der Luft bombardiert worden: offiziell wurden dabei 53 Menschen getötet und mehr als 130 verletzt.

Fotos aus dem Flüchtlingslager Tajoura nach dem Luftangriff

Military officers of the Libyan Government of National Accord (GNA)inspect damage and debris at a migrant detention centre used by the GNA in the capital Tripoli's suburb of Tajoura on July 3, 2019, following an air strike on a nearby building that left dozens killed the previous night. - Over 40 migrants were killed in an air strike early late on July 2 on their detention centre in a Tripoli suburb blamed on Libyan strongman Khalifa Haftar, who has been trying for three months to seize the capital. The UN said the air strike "may amount to a war crime". More than 130 people were also wounded in the in the raid on Tajoura, the statement added. (Photo by Mahmud TURKIA / AFP) (Photo credit should read MAHMUD TURKIA/AFP/Getty Images)
Military officers of the Libyan Government of National Accord (GNA)inspect damage and debris at a migrant detention centre used by the GNA in the capital Tripoli's suburb of Tajoura on July 3, 2019, following an air strike on a nearby building that left dozens killed the previous night. - Over 40 migrants were killed in an air strike early late on July 2 on their detention centre in a Tripoli suburb blamed on Libyan strongman Khalifa Haftar, who has been trying for three months to seize the capital. The UN said the air strike "may amount to a war crime". More than 130 people were also wounded in the in the raid on Tajoura, the statement added. (Photo by Mahmud TURKIA / AFP) (Photo credit should read MAHMUD TURKIA/AFP/Getty Images) © Mahmud Turkia / AFP / Getty Images
Inhaftierte Flüchtlinge stehen außerhalb der bombardierten Halle des bombardierten Lagers in Tajoura, in der mehr als 50 Menschen gestorben sind.
Inhaftierte Flüchtlinge stehen außerhalb der bombardierten Halle des bombardierten Lagers in Tajoura, in der mehr als 50 Menschen gestorben sind. © Mahmud Turkia / AFP / Getty Images

Die libysche Regierung hatte sich daraufhin über mangelnde Unterstützung durch die EU beklagt. „Wir können keinen Verteidigungskrieg gegen einen skrupellosen Gegner führen und uns gleichzeitig um Tausende Migranten und Flüchtlinge kümmern“, zitierte die taz den libyschen Innenminister. Anfang August machte das libysche Innenministerium dann Ernst und kündigte die Auflösung dreier Flüchtlingslager an: in Khoms, Misrata and Tajoura.

„Noch wurden die drei Lager nicht geschlossen“, schreibt Tarik Arganz vom Hilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR in Libyen auf Anfrage von BuzzFeed News. Doch die Regierung habe diese Möglichkeit nun ins Spiel gebracht. „Die Gefangenenlager in Khoms sind derzeit leer, nachdem der UNHCR die letzten 29 Flüchtlinge, die darin festgehalten wurden, evakuiert hat. In den beiden anderen Lagern werden geschätzt 450 Menschen festgehalten“, schreibt Tarik Arganz weiter.

Auch aus EU-Kreisen hieß es, die Lager seien noch nicht vollständig geräumt worden. Aktuell würden jedoch keine neuen Menschen dorthin gebracht. Das libysche Innenministerium und die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen antworteten nicht auf Fragen.

Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte BuzzFeed News, man begrüße den Schritt, da er „mit den wiederholten Forderungen der EU, alle Haftanstalten zu schließen“ im Einklang stünde. Eine Delegation der EU sei vor Ort, um zu überprüfen, was zur Schließung der Lager und zur Unterstützung der Freigelassenen unternommen werde.

Obwohl die libyschen Lager mit Geld und Unterstützung der EU eingerichtet wurden, entspricht die Unterbringung der Menschen dort nicht den dafür geltenden internationalen Konventionen. Es fehlt UN-Inspektoren und unabhängigen Beobachtern zufolge an sauberem Wasser und Nahrung. Die ärztliche Versorgung ist nicht sichergestellt, Frauen und Kinder sind unzureichend geschützt. In den schlimmsten Lagern komme es zu Folter, Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsarbeit.

Ein als geheim eingestufter EU-Bericht, den BuzzFeed News im Juli 2018 in voller Länge veröffentlicht hatte, bestätigte die Vorwürfe. Ein Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes sprach vor rund einem Jahr sogar von „KZ-ähnlichen Zuständen“.

EU-Kommission und SOPHIA betteln um Schiffe

Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte gegenüber BuzzFeed News, man sei „weiterhin besorgt darüber, dass wir ohne die Schiffe von SOPHIA nicht in der Lage sein könnten, schnell zu reagieren, wenn sich die Situation auf See verschlechtert.“ Damit steige auch die „Gefahr einer verstärkten Aktivität von Schmugglern.“

Deshalb hat SOPHIA dem Bericht zufolge die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, Schiffe zu benennen, die innerhalb von 14 Tagen eine „eventuelle maritime Antwort der EU ermöglichen“.

Die EU-Kommission wollte gegenüber BuzzFeed News nicht kommentieren, wie mit dieser Bitte umgegangen wurde – und verwies an die Mitgliedsstaaten. Ob die darauf eingehen wird sich Ende des Monats oder Anfang September zeigen, wenn die EU-Mitgliedsstaaten über eine Verlängerung des Mandats beraten: denn das aktuelle Mandat für die Operation Sophia läuft nur noch bis September.

Europa rettet nicht mehr – und Deutschland darum auch nicht

Für eine Verlängerung der Mission hatte sich zuletzt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgesprochen. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums schrieb BuzzFeed News auf Anfrage, „damit zukünftig die Operation wieder vollumfänglich mit seegehenden Einheiten durchgeführt werden kann" kämpfe Deutschland darum, mit anderen EU-Mitgliedern Regeln zu finden, nach denen gerettete Flüchtlinge in der EU verteilt werden.

Mit anderen Worten: So lange nicht klar ist, wie Gerettete in der EU verteilt werden, wird von staatlicher Seite gar nicht gerettet.

Die EU wollte mir ihrer Mission SOPHIA zwar nie offiziell Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten, doch die Schiffe waren die letzten Einheiten der EU vor Ort – und damit auch für die Rettung in Seenotfällen zuständig. Seit 2015 sollen die SOPHIA-Schiffe 45.000 Menschen in 312 Seenotfällen gerettet haben, steht in den internen EU-Bericht.

SOPHIA räumt ein, das Mandat nicht zu erfüllen

Die EU hatte im April 2016 beschlossen, statt einer eigenen Rettungsmission lieber libysche Einheiten auszustatten und zu trainieren. Dem jüngsten SOPHIA-Bericht zufolge mit mäßigem Erfolg. So habe die libysche Küstenwache und Navy im Berichtszeitraum (Dezember 2019 bis Mai 2019) lediglich auf 50 Prozent der Seenotrettungsfälle in der zentralen Mittelmeerroute reagiert:

BuzzFeed.de © Screenshot aus dem SOPHIA-Halbjahresbericht.

Im Sommer 2018 berichtete BuzzFeed News, dass die SOPHIA-Einheiten nicht mehr an Seenotrettungen beteiligt waren, während im gleichen Zeitraum die Zahl der Operationen der libyschen Behörden stark gestiegen ist. Im Jahr 2018 brachte die „Küstenwache“ mindestens 15.000 Menschen nach Libyen zurück. Mittlerweile flüchten deutlich weniger Menschen über das Mittelmeer. Das wird in dem SOPHIA-Halbjahresbericht auf die abschreckende Wirkung der libyschen Einheiten zurückgeführt.

Seit dem 1. April 2019 stehen SOPHIA keinerlei Schiffe mehr zur Verfügung. Und das, obwohl sich – wie es in dem Bericht heißt – „das Mandat nicht verändert hat“. Seit Juli zählt auch die „Umsetzung des UN-Waffenembargos auf hoher See vor der Küste Libyens“ offiziell Teil des SOPHIA-Mandats.

Der Halbjahresbericht räumt hingegen ein, dass dieses Ziel derzeit nicht erreicht werden kann. Die „Umsetzung des UN Waffenembargos ist seit dem 1. April signifikant behindert“, was laut Bericht an den fehlenden Schiffen liege. Die Schlussfolgerung des EUNAFVOR-MED-Kommandeurs: „Diese Art zu operieren kann klar nur temporären Charakter haben.”

BuzzFeed News veröffentlicht hier den gesamten Bericht der EU-Mission SOPHIA.

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