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Gefangen in der Risikogruppe

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BuzzFeed.de © dpa/Bildagentur-online/Schoening

Christian F. will sich vor dem Coronavirus in Sicherheit bringen. Der 43-Jährige zählt zur Hochrisikogruppe. Doch F. sitzt in Haft. Weil sich Menschen hinter Gittern kaum vor einer Ansteckung schützen können, versuchen er und andere Gefangene so schnell wie möglich rauszukommen – bevor das Virus reinkommt.

Wenn Christian F. morgens aufsteht, nimmt er 19 Pillen zu sich. Über den Tag verteilt werden es noch einige mehr: Blutdrucksenker, Insulin, Schmerzmittel, Psychopharmaka, Antidepressiva. Der 43-Jährige hat Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ist Diabetiker. Er gehört laut Robert-Koch-Institut gleich aus mehreren Gründen zur Risikogruppe für COVID-19.

Christian F. würde sich gerne soweit wie möglich isolieren, doch das geht nicht. Er wurde 2019 wegen Beihilfe zum Bankrott zu 21 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Jetzt sitzt er in einer Einzelzelle der Berliner Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee. Zusammen mit ihm sind rund 55 andere Gefangene auf dem Gang untergebracht, sagt er. Sie teilten Duschen, das Telefon auf dem Gang, die Kantine.

Sein Gefängnisalltag komme zum Erliegen, sagt Christian F: Gruppenangebote seien ausgefallen, auch das Väter-Coaching, an dem er sonst teilnehme. Individuelle Maßnahmen wie die Aufarbeitung der Straftat fänden nur noch eingeschränkt statt.

Besuche sind in vielen Bundesländern während der Corona-Pandemie auf ein Minimum beschränkt oder gleich ganz gestrichen. In Berlin etwa dürfen Rechtsanwält*innen ihre Mandanten nur in begründeten Ausnahmefällen und mit Trennscheibe besuchen. Gestrichen sind auch Freizeitangebote.

Die Zellentüren seien tagsüber zwar offen, sagt F. Viele blieben aber so viel wie möglich in ihren Zellen. Die Angst sich zu infizieren sei groß. Spätestens an der Essensausgabe stünden dutzende Gefangenen täglich hintereinander an. Einige wenige hielten von sich aus einen Sicherheitsabstand ein, der Rest nicht.

Die Berliner Justizverwaltung schreibt auf Anfrage, dies stimme nicht: „Es wird in allen Anstalten auf eine angemessene Gruppenstärke geachtet und die Gefangenen zur Einhaltung des Abstands aufgefordert”.

Gefangene fordern in einem Brief ihre Freilassung

Christian F. aber sagt, für ihn ist das Ansteckungsrisiko zu groß. Er hat deshalb vor rund zwei Wochen einen Antrag auf Haftunterbrechung an die zuständige Staatsanwaltschaft gestellt. Einen weiteren Antrag auf Hafturlaub hat er an die JVA gestellt. Seitdem wartet er auf seine Entlassung, bisher vergeblich. An einem Samstagabend Ende März meldet er sich bei BuzzFeed News: Sein Zellennachbar sei ein Corona-Verdachtsfall. Eine Ärztin habe bei ihm eine Speichelprobe genommen, um auf eine Infektion mit dem Coronavirus zu testen. Christian F. weiß: COVID-19 kann für ihn tödlich enden. Jetzt ist es vielleicht schon in der Zelle nebenan.

Die Gefängnisse sollen die Allgemeinheit vor Straftätern schützen. In der Corona-Pandemie müssen die Anstalten ihre Insassen vor dem Virus schützen, das sich außerhalb der Mauern ausbreitet. Was aber, wenn sie das nicht können?

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Coronavirus-Pandemie die Gefängnisse erreicht. Die Hamburger Justizbehörde hat in einer Telefon-Pressekonferenz am 24. März bereits zwei Fälle bestätigt, in denen sich Gefangene angesteckt haben. Laut Medienberichten gibt es auch in der JVA Euskirchen in Nordrhein-Westfalen einen Infizierten.

Gefangene in der Hamburger JVA Glasmoor, in der der deutschlandweit erste Infektionsfall hinter Gittern bestätigt wurde, fordern in einen Brief an die Staatsanwaltschaft ihre Freilassung. Der Brief liegt BuzzFeed News vor. „Das Aggressionspotenzial unter den Gefangenen und die Angst vor dem Coronavirus sind riesig“, heißt es darin. Die Gefangenengewerkschaft GGBO nennt den Strafvollzug ein „Pulverfass“.

Die Hamburger Justizbehörde widerspricht auf Anfrage. Die Inhaftierten zeigten viel Verständnis für die Situation, schreibt ein Sprecher. „Die Unzufriedenheit wegen der fehlenden, im offenen Vollzug üblichen, Lockerungen ist vorhanden, aber nicht ein gesteigertes Aggressionspotenzial.” Man arbeite derzeit mit allen Kräften daran, eine Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern.

JVA Plötzensee
JVA Plötzensee © Emmanuele Contini / picture alliance / NurPhoto

Eine Frage der Zeit

Seit knapp zwei Wochen meldet sich Christian F. regelmäßig mit Beobachtungen aus der Berliner JVA Plötzensee. Täglich steht er mit BuzzFeed News im Kontakt, belegt seine Situation mit Unterlagen. Die Stimmung hinter Gittern beschreibt er als zunehmend angespannt.

„Die Leute zeigen noch Verständnis“, sagt er. „Nur wenn Corona da ist, ist sich jeder am nächsten und dann geht die Massenpanik los. Und die wird dann durch 24 Stunden Einschluss versucht zu bändigen, was der falsche Weg ist, denn dadurch drehen so manche Unberechenbare erst recht ab. Das will ich mir nicht ausmalen.“

Wie prekär die Situation ist, wissen auch die Anstaltsleitungen. Der Leiter der Berliner JVA Tegel, Deutschlands größte Strafhaftanstalt für Männer, schreibt seinen Mitarbeiter*innen am 19. März 2020 in einem Rundschreiben:

„Die gegenwärtige Lage wird über Monate hinweg andauern und sich voraussichtlich in der gesamten Bevölkerung wie auch innerhalb der JVA Tegel leider noch deutlich verschlechtern. Unsere Gefangenen und Untergebrachten agieren nicht immer überlegt und vernünftig, auch sie sind verunsichert und ängstigen sich um Angehörige.“

Gefangene sind besonders gefährdet

Menschen in Gefängnissen seien eine Corona-Risikogruppe, sagt der Gefängnisarzt Karlheinz Keppler in einem Telefonat mit BuzzFeed News. Das liege zum einen an der Unterbringung auf engstem Raum. Die WHO-Empfehlung von 1,5 bis 2 Metern Abstand könne man im Gefängnis schlicht nicht einhalten. Zum anderen liege es an dem hohen Anteil von Alkohol- und Drogenkranken unter den Inhaftierten. Diese weisen besonders häufig Begleiterkrankungen wie chronische Bronchitis auf – was den Krankheitsverlauf bei COVID-19 durchaus verschlimmern könnte. Dazu komme, dass fast alle rauchen.

Die Anstaltsleitungen informieren die Gefangenen mit Aushängen über Hygienevorschriften. Desinfektionsmittel seien in ausreichendem Umfang verfügbar, sagt ein Sprecher der Berliner Senatsverwaltung. Genügend Schutzmasken für das Personal – um etwa das Infektionsrisiko bei der Durchsuchung von Besucher*innen in der Anstalt – gebe es leider nicht, schreibt der Leiter der Anstalt in Tegel an seine Mitarbeiter*innen.

Gefangene fühlen sich schlecht informiert. „Alle Gefangenen sind irritiert, verängstigt und die Beamten schweigen sich aus. Wir haben das Gefühl, man wolle hier etwas vertuschen und runter spielen“, sagt F.

Was bleibt, ist der „Flurfunk“. Fakten, Gerüchte und Falschinformationen verbreiten sich wie bei der stillen Post von einem Gefangenen zum anderen. Oft stammen die Infos von den Hausarbeitern, also Gefangenen, die Haushaltsaufgaben innerhalb der JVA erledigen. Wer putzt, kocht, Kleidung und Bettwäsche wäscht, kann sich in der Anstalt freier bewegen und sieht und hört dementsprechend mehr.

So bekommt Christian F. über Ecken mit, dass die Anstalt vorsorglich Isolierzellen für Infizierte einrichte. Einige Zellen seien so klein, dass nicht einmal Betten hineinpassten und stattdessen Matratzen auf dem Boden ausgelegt würden, lautet das Gerücht. Das stimmt nicht, schreibt der Justizsprecher auf Anfrage. In Plötzensee gebe es ausreichend Platz für „normale“ Hafträume, insbesondere, da es aufgrund von Corona derzeit zusätzliche Entlassungen und freie Räume gebe.

Berlin und andere Bundesländer haben hunderte Ersatzfreiheitsstrafer entlassen, also Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen im Gefängnis sitzen. In der JVA Plötzensee, in der auch Christian F. inhaftiert ist, steht deshalb jetzt ein ganzes Haus zur Verfügung. Hier sollen bei einem Corona-Ausbruch die infizierten Gefangenen isoliert werden.

Die Gefängnisse bereiten sich auf den Ernstfall vor

Alle Gefängnisse wollen den ersten Infektionsfall hinter ihren Mauern so lange wie möglich verhindern. Dafür schaffen sie einerseits Platz und schotten sich andererseits so weit wie möglich ab. Weil der Strafvollzug in der Verantwortung der Bundesländer liegt, reagiert jedes Bundesland anders auf die Bedrohung.

Haftantritte wurden je nach Bundesland um bis zu vier Monate verschoben. In Bremen wurden bereits Mitte März 26 Gefangene über 50 Jahre oder mit relevanter Vorerkrankung im Rahmen einer Amnestie vorzeitig aus der Haft entlassen, teilt das dortige Justizministerium auf Anfrage mit. In Hessen hieß es am gleichen Tag, man denke nicht über Haftentlassungen nach.

Auch ein Sprecher des Justizministeriums in Schleswig-Holstein schreibt auf Anfrage, dass Untersuchungsgefangene nicht entlassen würden. „Die Sicherung des geordneten Strafverfahrens hat hier Vorrang.“

Vom Großraumbüro in die Anstalt

Besonders hart trifft die Abschottung die sogenannten Freigänger im offenen Vollzug. Zum Beispiel einen Gefangenen, der seit Monaten tagsüber in einem Gastronomiebetrieb arbeitet, Zeit mit seiner Partnerin verbringt und nur nachts zum Schlafen in die JVA Glasmoor zurückkehrt. Als er am 16.3.2020 in die JVA zurückkehrt sei, habe man ihm mitgeteilt, dass er am nächsten Morgen nicht mehr raus dürfe. Er habe in seiner Zelle keine Ersatzwäsche, keine Essensvorräte und keine Informationen darüber, wie es mit ihm weitergeht, berichtet seine Partnerin vor wenigen Tagen am Telefon.

Zwei Wochen sei das nun her. Die Nerven in der Anstalt lägen blank, der Virus sei 24 Stunden am Tag Gesprächsthema, sagt sie – nicht erst seit die Justizbehörde einen Infektionsfall bestätigt habe. Duschen, Telefone, Küche, Kantine – alles würde gemeinschaftlich genutzt, berichtet die Angehörige. Einige Insassen seien beurlaubt worden, andere dürften weiterhin rein und raus, um zu arbeiten. Wenn man ihren Partner schon einsperre, wieso dürften andere dann raus – und das Virus eventuell wieder reintragen, fragt sie sich.

Die Hamburger Justizbehörde zeichnet rund eine Woche später ein ganz anderes Bild vom Haftalltag in der JVA Glasmoor. Die Anstalt habe beobachtet, dass Inhaftierte aktuell anonyme Falschbehauptungen an die Presse weiterleiteten.

Tatsächlich könnten in der JVA Glasmoor höchstens zwei Gefangene gleichzeitig die Stationsküchen nutzen, schreibt der Sprecher. Die Telefone und Duschen würden häufiger als üblich gereinigt. Die Gefangenen dürften bald ihre Handys auf den Zellen benutzen. Das werde gerade vorbereitet. Seit Anfang der Woche würden alle Mahlzeiten individuell auf den Stationen ausgegeben. Die Bediensteten hätten die Gefangenen laufend informiert und achteten auf dem Hof und auf den Stationen auf die Einhaltung der Abstandsregeln, teilt der Sprecher mit. „Es gelten die Abstandsregelungen wie außerhalb des Vollzugs.”

Es stimmt jedoch, dass noch immer 37 Gefangene die Anstalt regelmäßig verlassen und nach der Arbeit zurückkommen. Voraussetzung dafür sei, dass die Gefangenen die Anstalt „ausschließlich zum Erhalt ihrer für die Entlassungsvorbereitung wichtigen Arbeitsplätze” verlassen, teilt die JVA auf Anfrage mit.

Ein anderer Freigänger aus einem Gefängnis in Nordrhein-Westfalen erzählt BuzzFeed News, dass er tagsüber in einem Großraumbüro bei einem Dienstleistungsunternehmen arbeitet – und abends wieder zurück in die Anstalt kehrt. „Die Logik habe ich auch noch nicht so richtig durchschaut“, schreibt er in einer Nachricht. „Ich darf wegen der Ansteckungsgefahr keine Freizeitausgänge mehr nehmen, aber jeden Tag mit Bus und Bahn zur Arbeit um mich dann mit 50 weiteren Menschen in ein Großraumbüro zu quetschen, das geht.“ Einige Tage später schreibt er, ein Teil der Belegschaft sei in Kurzarbeit geschickt worden, sodass sich jetzt weniger Mitarbeiter*innen auf das Büro verteilten.

Die Justizvollzugsdirektion in Nordrhein-Westfalen bestätigt, dass Gefangene weiterhin in Großraumbüros zur Arbeit gingen. Eine vollständige Übersicht der Arbeitsbedingungen vor Ort hätten nur die einzelnen Anstalten, schreibt ein Sprecher. In den bekannten Fälle seien in den Büros jedoch nur noch wenige Beschäftigte im Einsatz. Auf dem Weg zur Arbeit würde den Freigängern „ein entsprechendes Maß an Eigenverantwortung und Selbstständigkeit abverlangt”. Immerhin habe die Landesregierung in ihrer Corona-Schutzverordnung entschieden, dass das wirtschaftliche Leben nicht mehr als unbedingt nötig einzuschränken.

Der mit Corona infizierte Gefangene aus der JVA Euskirchen in Nordrhein-Westfalen war laut Medienberichten ebenfalls Freigänger und nur wenige Tage pro Woche in Haft. Jetzt ist er draußen, in häuslicher Quarantäne.

Mehrere Infektionsfälle wurden bereits bestätigt

Die Enge im Gefängnis ist nicht nur für die Insassen, sondern auch für die Mitarbeiter*innen gefährlich. Mehrere Infektionsfälle bei Bediensteten sind bereits bestätigt worden. Angesichts der knappen Personaldecke, des hohen Krankenstands und der massiven Anzahl an Überstunden in vielen Bundesländern kann sich der Justizvollzug schon in normalen Zeiten keinen Ausfall leisten. Dazu kommt, dass die Gefängnisse offenbar teils chaotisch auf die Pandemie-Gefahr reagierten. In einem anonymen dienstlichen Vermerk aus der JVA Tegel vom 18. März 2020 bemängeln eine oder mehrere Mitarbeiter*innen, dass sie nicht einmal ausreichend Zeit hätten, um die Rundschreiben zum Thema Corona zu lesen.

In dem Beschwerdebrief, den die Unterstützergruppe für Inhaftierte „Criminals for Freedom“ veröffentlicht hat, heißt es, die Gefangenen würden „offensichtlich völlig unkoordiniert“ innerhalb und zwischen den Anstalten verlegt. „Gefangene konnten keinen Abstand einhalten, waren in Warteräumen und im Fahrzeug zu mehreren eingeschlossen.“ Der Sprecher der Berliner Justizverwaltung dementiert dies. „Verlegungen finden grundsätzlich koordiniert statt”, schreibt er auf Anfrage. Mittlerweile haben alle Bundesländer Gefangenensammeltransporte eingestellt.

Zwar hat der Berliner Vollzug schnell reagiert und viele Gefangene entlassen. Doch diese Entlassungen seien völlig überstürzt passiert, wird in dem Beschwerdebrief weiter kritisiert. Zum Beispiel wurde nicht geprüft, ob die Entlassenen eine Unterkunft hatten, heißt es in dem Vermerk. „Wir haben evtl. den ein oder anderen auf die Straße gesetzt ohne zu prüfen ob er eine Unterkunft hat oder wie er zu seiner Familie gelangt.“ Auch hier widerspricht der Sprecher: Für Ersatzfreiheitsstrafer gebe es ohnehin keine Entlassungsvorbereitung. Wer keine Unterkunft hatte, hätte auch länger bleiben können.

Krisenszenario: „Tee, Suppen, Konserven, Zwieback und andere haltbare Brotsorten.“

Wer wissen will, was die Gefängnisse im Ernstfall machen, muss einen Blick in die Pandemiepläne der Bundesländer werfen. Sie orientieren sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO und sind in verschiedene Phasen unterteilt, von der Vorbereitungsphase 1 bis zum Ernstfall in Phase 6: einer oder mehrere Infektionsfälle in einer JVA.

Im hessischen Pandemieplan, auf den das Justizministerium auf Anfrage verweist, heißt es, die Gefängnisse sollten sich in Phase 6 Vorräte anlegen. Vorzugsweise: „Tee, Suppen, Konserven, Zwieback und haltbare Brotsorten. Gedacht werden sollte aber auch an zusätzliche Bevorratung für die Ausgaben von Genussmitteln - Süßwaren, löslicher Kaffe und Tabak -, um die Zeit, in der möglicherweise kein Einkauf durchgeführt werden kann, zu überbrücken.“ Notfallteams von Bediensteten sollten bereits vorsorglich Isomatten und Schlafsäcke in der Anstalt deponieren, falls sie zum Einsatz kämen. Fielen zu viele Bedienstete aus, sollten Gefangene als „Pflegehilfsdienste“ eingesetzt werden.

Nur die wenigsten Bundesländer veröffentlichen ihre Pandemiepläne für die Justizvollzugsanstalten. Weil darin auch niedergeschrieben sei, ab wann Gefangene entlassen würden, befürchtet der Berliner Justizsprecher, dass die Gefangenen absichtlich das Coronavirus in die Anstalt tragen könnten. Das sagt er gegenüber BuzzFeed News am Telefon. Bayern, Baden-Württemberg und viele andere Bundesländer teilen auf Anfrage mit, dass durch eine Veröffentlichung die Sicherheit der Anstalten gefährdet würde.

Im deutschen Strafvollzug gibt es genau sechs intensivmedizinische Betten

BuzzFeed News hat alle Landesjustizministerien gefragt, welche Sofortmaßnahmen sie im Fall einer bestätigten Infektion hinter Gittern ergreifen. Sachsen-Anhalt teilt mit: „Für die gesunden Gefangenen findet nur noch eine Grundversorgung statt. Die Beschäftigung der Gefangenen wird gänzlich eingestellt. Gleiches gilt für Freizeit- und Behandlungsmaßnahmen.“ Zur Not wolle man die Gefangenen auch gemeinsam in sogenannten Notbehandlungsbereichen unterbringen. Wenn nicht mehr genug Isolationszellen zur Verfügung stünden, kämen dafür auch Sporthallen oder Mehrzweckräume infrage.

Die medizinische Versorgung in deutschen Haftanstalten ist auch ohne eine Pandemie häufig unzureichend. Die Pandemie verschärft diesen Zustand noch einmal. Christian F.’s Termin im Justizvollzugskrankenhaus, bei dem das erste Mal seit einem halben Jahr wieder seine Blutwerte eingestellt werden sollten, wurde wegen COVID-19 abgesagt. Der Justizvollzug sei nicht mehr in der Lage, seiner Fürsorgepflicht nachzukommen, schreibt seine Anwältin in einem Schreiben an die JVA, welche Buzzfeed News vorliegt. „Hierdurch drohen meinem Mandanten ernsthafte und dauerhafte gesundheitliche Schädigungen.“

Viele Gefangene sind wegen der Corona-Pandemie aus der Haft entlassen worden. Und dennoch sitzen immer noch zehntausende Gefangene hinter Gittern, mit erhöhtem Ansteckungsrisiko und zahlreichen Vorerkrankungen. Für sie stehen bundesweit im Justizvollzug genau sechs intensivmedizinische Betten zur Verfügung, wie aus den Antworten der Justizministerien hervorgeht. Sie befinden sich im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in Nordrhein-Westfalen. Manche Bundesländer wie Sachsen-Anhalt oder Thüringen haben nicht einmal ein eigenes Justizvollzugskrankenhaus. Entwickelt ein Gefangener schwerwiegende Symptome der Lungenkrankheit COVID-19 bleibt dort nichts übrig als die Gefangenen in ein ziviles Krankenhaus zu transportieren.

Diese sogenannten Ausführungen sind im regulären Betrieb schon eine Belastung angesichts der Überlastung der Beamt*innen. Denn jeder Gefangene muss auch am Krankenbett rund um die Uhr im Schichtbetrieb bewacht werden. In Rheinland-Pfalz will man deshalb zur Not die Polizei bei Krankenhaustransporten einsetzen.

„Das ist schlimmstenfalls mein Todesurteil“, sagt F.

Christian F. sitzt derweil wie viele der mehr als 60.000 Insassen in Deutschland 23 Stunden am Tag in seiner Zelle, sieht fern und hofft auf seine Entlassung. Immerhin, sagt er, wurde ihm bereits vor einer Woche Blut abgenommen. Auf Basis dieser Werte solle der ärztliche Dienst der JVA eine Einschätzung an die zuständige Staatsanwaltschaft schicken. Sie muss der Haftunterbrechung zustimmen.

Vor wenigen Tagen dann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft: Sein Antrag auf Haftunterbrechung wurde abgelehnt.

Als Begründung heißt es in dem Bescheid, Christian F. sei „unabhängig von der Strafvollstreckung in einem schlechten Gesundheitszustand”. „Ich bin fassungslos”, sagt er. „Das ist eine skandalöse Entscheidung und schlimmstenfalls mein Todesurteil.” Er frage nicht nach einem Gnadenerweis, sagt er. Er wolle den Rest seiner Strafe abbüßen, sobald seine Gesundheit es wieder zulasse. Doch die Entscheidung, ihn nicht zu entlassen, lässt ihn daran zweifeln, was sein Leben als Strafgefangener der Justiz wert ist.

Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz äußert sich auf Anfrage nicht zu Christian F.’s Fall, da dies aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich sei . Bislang sei außer den Ersatzfreiheitsstrafern kein Gefangener wegen seines Alters oder Vorerkrankung entlassen worden, schreibt ein Sprecher. „Eine prophylaktische Entlassung chronisch kranker Inhaftierter während der Pandemie ist nach derzeitigem Stand nicht vorgesehen.”

Man habe jedoch Maßnahmen erarbeitet, um Menschen wie Christian F. zu schützen, teilt die Justizverwaltung mit. Sie sollen isoliert werden und in „intensivierter Basishygiene” und Selbstmonitoring geschult werden. Die Freistunden begehen sie ebenfalls alleine. Bei der Staatsanwaltschaft könnten die Gefangenen immer noch eine Haftunterbrechung beantragen.

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