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Dieser Schulleiter versucht seit 15 Jahren, Missbrauch an einer Realschule aufzudecken

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Jetzt will er das zuständige Ministerium verklagen.

Pornobilder im Klassenraum, Lehrer die ihren Schülern sagen, man müsse sie „durchficken“, die Kinder mit in ihr Wochenendhaus nehmen, um dort Pornofilme anzuschauen oder Schülerinnen bei sich zu Hause arbeiten lassen und ihnen dann „körperlich nahe kommen“.

Das sind die Vorwürfe gegen ehemalige Lehrer der Kreisrealschule Bad Orb im hessischen Main-Kinzig-Kreis. Von den 1980ern bis in die frühen 2000er Jahre soll es nach Informationen von BuzzFeed News an der Schule zu Missbrauch von Schülerinnen sowie zu wiederholten sexualisierten Beleidigungen und Demütigungen gekommen sein. Die Aussagen von Schülern und Eltern aus dieser Zeit sind durch Protokolle aus Lehrerkonferenzen, Briefen von Elternbeiräten an das zuständige Schulamt, Gutachten des Jugendamts und Schreiben an und aus dem hessischen Kultusministerium belegt. Die Dokumente liegen BuzzFeed News vor.

Einer der Schulleiter aus dieser Zeit will die sexualisierten Beleidigungen und Demütigungen an seiner Schule aufdecken. Doch statt ihm bei der Aufklärung zu helfen, wird er von einigen Lehrern und Eltern drangsaliert. Jetzt klagt er gegen das Kultusministerium des Landes Hessen. Das soll ihn nicht ausreichend unterstützt und angeblich sogar versucht haben, die Vorgänge zu vertuschen.

Wann wusste das Ministerium Bescheid?

Inwiefern das Ministerium vor mehr als 15 Jahren von einzelnen Vorfällen sexualisierter Beleidigung oder mutmaßlichen Missbrauchs gewusst habe, lasse sich „aktuell noch nicht nachvollziehen“, so ein Sprecher heute. Bis „auf Informationen zu Fällen, die einer Person zuzuordnen sind, liegen uns derzeit keine weiteren verwertbaren Informationen vor.“

Dokumenten zufolge, die Buzzfeed News vorliegen, muss das Ministerium jedoch spätestens seit 2002 Kenntnis von den Vorfällen gehabt haben. Ein Sprecher bat BuzzFeed News um die entsprechenden Akten. BuzzFeed News hat lediglich die Teile der Akten weitergegeben, die wir auch in diesem Artikel veröffentlichen. Das Ministerium schreibt, man werde diese in die „intensive Prüfung“ mit aufnehmen. Die darin geschilderten Vorwürfe seien "im Rahmen von disziplinarischen Maßnahmen des Schulamtes aufgearbeitet, geahndet und keinesfalls geduldet worden".

Der Vorsitzender des Landesverbandes der GEW Hessen, Jochen Nagel, der den Fall Vormwald begleitet, sieht das anders. "Die Maßnahmen waren unzureichend und sind für uns nicht nachvollziehbar", so Nagel.

Alles beginnt an einem Nachmittag im März 2001 mit einem Telefonat. Der kommissarische Leiter der Kreisrealschule Bad Orb, Ulrich Vormwald, bekommt einen Anruf von „sehr aufgebrachten Eltern“, wie er sich gut 16 Jahre später im Gespräch mit BuzzFeed News erinnert. In der 6. Klasse der Schule unterrichte ein Lehrer, der die Kinder mit sexuellen Äußerungen beleidige. Das Ganze gehe schon mindestens anderthalb Jahre so. Vormwald reagiert wie er reagieren muss: Er gibt den Vorfall ans Schulamt des Main-Kinzig-Kreises weiter. Ein Schulpsychologe kommt an die Schule, das Jugendamt wird informiert. Ein unschöner Fall, doch bis dahin hat Vormwald das Gefühl „gemeinsam mit der vorgesetzten Behörde können wir das gut moderieren“. Er täuscht sich.

Lehrer S.: „Mit eisernem Besen durchficken“

Nach dem Gespräch mit einer betroffenen Schülerin schreibt der zuständige Sozialarbeiter am 13. September 2001: „Lehrer S. würde täglich sexistische Witze erzählen, die die gesamte Klasse als äußerst unangenehm und in ihrer Würde verletzend empfinden. Etwa: Ich muss hier mit einem eisernen Besen durchficken.“

Das Schreiben im Original:

Dem Schulpsychologen erzählen die Kinder, Lehrer S. habe gesagt „ich verkaufe als Mädchenhändler blonde Mädchen an Araber“. Die Aussagen der Kinder seien von „außerordentlicher Glaubwürdigkeit“, schreibt der Psychologe in einem Gutachten, das BuzzFeed News vorliegt. Sie hätten sie als „übergriffig“ und „verletzend“ empfunden.

Hier findet ihr das schulpsychologische Gutachten.

Der Vater einer Schülerin äußert sich zur selben Zeit in der Lokalzeitung, dem Gelnhäuser Tageblatt. Wieder geht es um Lehrer S. „Na, habt ihr euch das Handy unten reingeschoben?“, soll dieser die Tochter des Mannes und ihre Freundin gefragt haben, nachdem sie von der Toilette in die Klasse kamen. So zitiert die Zeitung den Vater. Dem Vater zufolge soll das bei weitem nicht der einzige Vorfall dieser Art gewesen sein. Seine Tochter sei daraufhin krank geworden, heißt es in dem Artikel.

Der entsprechende Artikel in der „Gelnhäuser Neue Zeitung“ vom 19. Juni 2001. © Gelnhäuser Neue Zeitung

Alexandra Retkowski ist Juniorprofessorin für Professionsethik mit dem Schwerpunkt Sexualität und Macht in Schule und Sozialer Arbeit an der Universität Kassel. Für sie ist „die Dunkelziffer von Fällen wie diesen gigantisch. Gerade was verbale Gewalt angeht.“ Wichtig sei es, auch kleine Anzeichen nicht abzutun, man wisse schließlich nicht, ob sich dahinter nicht doch noch Schwerwiegenderes verberge.

„Die Pädagogik ist dafür aber erst nach den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule sensibel geworden“, sagt Retkowski. Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule wurde 2010 und damit acht Jahre nach den Vorfällen an der Kreisrealschule Bad Orb bekannt.

Das erklärt auch, warum gegen Lehrer S. zwar ein Disziplinarverfahren eingeleitet und auch abgeschlossen wurde, wie ein Sprecher des hessischen Kultusministerium bestätigt – er aber nur ein kurzfristiges Unterrichtsverbot bekommt. Sein Fehlverhalten sei damals noch nicht strafrechtlich relevant gewesen, sagt der Sprecher. Das Sexualstrafrecht wurde seit 2002 zweimal reformiert. Lehrer S. verbleibt bis zu seiner Pensionierung verbeamtet, wird an eine andere Schule versetzt und kommt schließlich in die Verwaltung. Verschiedene Versuche von Buzzfeed News, ihn ausfindig zu machen, blieben erfolglos.

Lehrer und Eltern bekommen Termin im Ministerium

An der Schule bildet sich nach den ersten Nachforschungen von Schulleiter Vormwald eine Allianz aus wenigen Lehrern und einer Elternvertreterin, die sich für den beschuldigten Lehrer S. einsetzen und die Eltern der betroffenen Schüler und Schülerinnen sowie den Schulleiter angreifen. Das Ganze geht so weit, dass diese Gruppe aus Lehrern und der Elternvertreterin einen Termin beim mittlerweile verstorbenen Staatssekretär Hartmut Müller-Kinet (CDU) im hessischen Kultusministerium erhalten.

Ein Sprecher des Ministerium bestätigt gegenüber Buzzfeed News, dass es dieses Treffen gegeben hat. Entsprechende Unterlagen aus dem Schulamt würden dies bestätigen. Ein Protokoll sei allerdings nicht geführt worden. Es sei Herrn Müller-Kinet wohl darum gegangen, alle Seiten anzuhören.

Eltern fühlen sich von Lehrer S. unter Druck gesetzt. Das Schreiben ist vom 5. Mai 2001.
Eltern fühlen sich von Lehrer S. unter Druck gesetzt. Das Schreiben ist vom 5. Mai 2001. © -

Während an der Schule danach ein „unerträgliches Klima“ herrschte, wie Vormwald heute sagt, findet er in alten Unterlagen Hinweise darauf, dass es schon vor seiner Zeit zu Fehltritten von Lehrern kam. Und das es nicht nur bei verbaler Belästigung geblieben ist.

In den 1980er Jahren nahm ein Lehrer eine von ihm selbst gegründete Pfadfindergruppe mit in sein Wochenendhaus. Dort sollen sie gemeinsam Pornos geschaut haben. So schreibt es Vormwald 2001 ans Schulamt.

„Untragbare sexistische Vorgänge einiger Lehrer“

Wenige Monate später sucht die Mutter einer Schülerin den Sozialarbeiter des Jugendamtes im Main-Kinzig-Kreis auf. Sie war selbst Schülerin an der Kreisrealschule. Bei ihrer Abschlussfahrt sei sie von dem betreuenden Klassenlehrer in ein Zimmer gebeten und dort gedrängt worden, ihn zu küssen. Aus Scham, so die Mutter, habe sie nie davon gesprochen. An der Schule gäbe es ein Desinteresse die „untragbaren sexistischen Vorgänge einiger Lehrer zu beenden“, so zitiert der Sozialarbeiter die Frau in seinen Notizen.

Hier findet ihr den Aktenvermerk des Sozialarbeiters.

Wie schlecht mit Anschuldigungen sexualisierter Gewalt schon vor Jahrzehnten umgegangen wurde, zeigt auch das Protokoll einer Gesamtkonferenz von Lehrern und Eltern aus dem Jahr 1990: Offen wurde dort diskutiert, dass Lehrer H. zwei Schülerinnen während der Unterrichtszeit zu sich nach Hause schickte, um dort „Arbeiten ausführen zu lassen“.

Danach soll es dem Protokoll zufolge zu Annäherungen gekommen sein, sagen die Mütter der Mädchen in großer Runde. Lehrer H. ist während der Konferenz anwesend. Nachdem die Runde den Tagesordnungspunkt „Anschuldigungen“ abgehakt hat, geht sie über zu Müllproblemen und zur Verwendung des Schulfestguthabens. Das Protokoll der Konferenz liegt BuzzFeed News vor. Verschiedene Versuche, Lehrer H. ausfindig zu machen, um ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren, blieben erfolglos.

Schulamt findet Belege für Gewalt und vernichtet die Akten

Lehrer H. wird ermahnt, wie aus dem Protokoll hervorgeht. Auch er verbleibt bis zur Pension im Schuldienst. Auf die Nachforschungen Vormwalds im Jahr 2001 schaut das Schulamt noch einmal alle Akten bezüglich sexualisierter Gewalt an der Kreisrealschule durch. In einem abschließenden Urteil kommt das Schulamt zu dem Schluss, dass es die sexualisierte Gewalt gegeben hat. Folgen hat das keine. Stattdessen vernichtet das Schulamt die Akten.

„Über Bad Orb hängt eine Dunstglocke“, sagt Jochen Nagel von der GEW Hessen. „Jeder, der da seinen Kopf aus dem Fenster steckt, wird als Nestbeschmutzer gesehen.“ Daher sei es sehr schwer, mit Betroffenen zu sprechen. Noch heute hätten viele von ihnen Angst und Schamgefühle.

Für Nagel ist es unverständlich, warum es nicht spätestens 2002 Ermittlungen seitens des Kultusministeriums oder sogar der Polizei zu den Vorgängen an der Realschule gab. „Es gab keine konsequente Aufarbeitung“, sagt Nagel. Bis heute ist daher völlig unklar, ob es mehr als zwei körperlichen Übergriffe gegeben hat und welche Folgen die betroffenen Schüler davongetragen haben.

Der Sprecher des hessischen Kultusministeriums sagt im Telefonat mit Buzzfeed News, man versuche den Vorwürfen selbstverständlich nachzugehen. Dies werde allerdings „einige Zeit in Anspruch nehmen, da aufgrund der lange zurückliegenden Vorfälle etwaige Akten nicht mehr vollständig sind“.

Anfrage belegt: Ministerium hat sich mit Vorwürfen beschäftigt

Bereits 2002 stellt eine Abgeordnete der Grünen im hessischen Landtag eine umfangreiche Anfrage zu den Vorfällen in Bad Orb. Priska Hinz, heute hessische Ministerin für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, fragt dort: „Welche sexistischen Verfehlungen von Lehrkräften der Schule sind in den letzten 15 Jahren aktenkundig geworden?“

Am 08.11.2002 sind diese und weitere Fragen Gegenstand in einer nichtöffentlichen Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses. Ein handschriftliches Protokoll existiere, sei aber "vertraulich", wie ein Sprecher der Grünen im hessischen Landtag auf Anfrage von Buzzfeed News schreibt. Darin erwähnt seien "laufende Prüfungen und nicht abgeschlossene Verfahren". Allerspätestens zu diesem Zeitpunkt, muss sich das Ministerium daher mit den Vorfällen beschäftigt haben.

Hier lest ihr den Antrag der Abgeordneten Priska Hinz.

Vormwald wird schließlich 2002 von der Realschule abberufen. Aus dem Kultusministerium heißt es, dies habe nichts mit seinen Nachforschungen zu tun. Vielmehr sei Vormwald „nicht in der Lage gewesen eine Schule zu leiten“, er habe eine „schlechte Führungskompetenz“.

Vormwald klagt dagegen vor dem Verwaltungsgericht und bekommt Recht. Im Urteil heißt es, er hätte „jede sachgerechte Unterstützung verdient“, denn es gehöre zur „korrekten Aufgabenerfüllung“ eines Beamten, „sexistischen Fehlleistungen aller Art zur Wahrung der Menschenwürde der Verletzten mit allen Mitteln entgegenzutreten.“ Seine Karriere ist danach trotzdem am Ende, bis heute wird er von Posten zu Posten verschoben. Von einer Schule in Offenbach ins Kultusministerium, ins staatliche Schulamt, ins mittlerweile aufgelöste Landesschulamt und zurück ins Kultusministerium.

Jetzt will der ehemalige Schulleiter das Ministerium verklagen

Gewerkschaftsvertreter Nagel sagt: „Er wird von heute auf morgen aus Projekten rausgezogen. Das ist Schikane.“ Als Vormwald kürzlich einen Antrag stellte, in dem er seine Tätigkeit eintragen sollte und ratlos seinen Vorgesetzten fragte, antwortete dieser: „ohne Funktion“. Man lasse ihn „am langen Arm verhungern“, sagt Nagel.

Vormwalds neue Klage könnte auch der Aufarbeitung mutmaßlicher Missbrauchs- und Belästigungsfälle helfen. Ulrich Wilken, rechtspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion im hessischen Landtag, fordert in einem Statement, die konsequente Aufarbeitung dieses Falls und möglicher weiterer Fälle, die dem Ministerium bekannt sind“. Es sei bitter, schreibt Wilken, dass das erforderliche Signal für die Aufdeckung sexuellen Missbrauchs aus dem Kulturministerium ebenso ausgeblieben sei, wie die überfällige, vollständige Rehabilitierung von Ulrich Vormwald.

Auch wenn Straftaten eventuell schon verjährt sind, bleibt Aufklärung für Betroffene äußerst wichtig, sagt die Kasseler Juniorprofessorin Alexandra Retkowski. Dass man im Ort und an der Schule noch heute über die Vorfälle schweige, zeige, dass „eine Institution auch ein eigenes Gedächtnis hat und Verhaltensweisen tradiert werden.“ Dieses Schweigekartell gelte es zu durchbrechen.

Unsere Reporterin Pascale Müller recherchiert für BuzzFeed News langfristig zum Thema sexualisierte Gewalt. Ihr erreicht Pascale unter pascale.mueller@buzzfeed.com.

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