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So verbreitet war Kindesmissbrauch in der DDR wirklich

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Eine neue Untersuchung geht von einer halben Million Opfern aus. Einige von ihnen sprachen am Mittwoch in Leipzig.

“Der Bahnhofsleiter, der mich drei Jahre lang missbrauchte, war zum Glück nur dienstags und freitags da”, sagt Gerd Keil. Er ist einer von Hundertausenden, die während ihrer Kindheit in der DDR sexualisierte Gewalt erleben mussten - in ihren Familien, Erziehungsanstalten und anderen Institutionen. Bis heute sind die meisten dieser Verbrechen weder bekannt, noch aufgearbeitet, wie das zweite öffentliche "Hearing" der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch in Leipzig jetzt gezeigt hat.

Keil arbeitete bis zu seinem 14. Lebensjahr bei der Pionier-Eisenbahn in Berlin-Wuhlheide. Über das, was der Bahnleiter ihm antat, konnte Keil damals mit niemandem reden. Seine Mutter, so sagt er heute, hätte ihm nach dem ersten Übergriff nur einen Vortrag gehalten, dass sie nun seinen Anzug reinigen müsse.

Von Erwachsenen und vom Staat im Stich gelassen zu werden, diese Erfahrung teilt Gerd Keil mit vielen anderen. Seit die Kommission im Jahr 2016 ihre Arbeit aufgenommen hat, hat sie mehr als 1.200 Anmeldungen für vertrauliche Gespräche aus ganz Deutschland erhalten. Nur 100 davon entfallen auf die DDR.

“Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern”, so Christine Bergmann, Vorsitzende der Kommission und frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.

Weil der Missbrauch vielfach in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen stattfand und untrennbar mit dem politisch-ideologischen Strukturen des sozialistischen Staates verbunden war, fällt es Betroffenen bis heute schwer, sich staatlichen Einrichtungen anzuvertrauen.

"Als ich den Missbrauch 2013 angezeigt habe, ist eine Last von mir angefallen - auch wenn er verjährt ist" René Münch

“Nur weil es den Staat DDR nicht mehr gibt, dürfen wir keinen Schlussstrich unter das Leid der Betroffenen ziehen”, sagte Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD). Sie wünsche den Betroffene einen schnelleren Zugang zu Hilfen, so Barley. Viele haben noch heute mit körperlichen, seelischen und sozialen Belastungen zu kämpfen. Es fehlt an unbürokratischen Hilfsangeboten und Fachberatungsstellen.

“Die sexuelle Gewalt in den Heimen findet bisher keine bis wenig Beachtung”, kritisiert Corinna Thalheim, Vorstandvorsitzende der Betroffeneninitiative “Missbrauch in DDR-Heimen”. Es gäbe keine Möglichkeit, Hilfe und Anerkennung zu bekommen. Viele der ehemaligen Heimkinder sind aufgrund von physischen und psychischen Spätfolgen des Missbrauchs nicht in der Lage, ihren Fall bei Behörden geltend zu machen. Betroffene fordern daher Sonderfonds mit niedrigen bürokratischen Hürden.

Diese Punkte kritisieren auch die Kommission und der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig. Rörig hatte vergangene Woche in Berlin eine Reform des Opferentschädigungsgesetz sowie eine gesetzliche Verankerung für den Kampf gegen Kindesmissbrauch von der kommenden Bundesregierung eingefordert.

"Es gibt keinen, der zur Rechenschaft gezogen wurde" - Renate Viehrig-Seger

Wenn das Recht die Täter in den Mittelpunkt stellt

250 Fälle aus der DDR wurden inzwischen untersucht und 150 davon detailliert ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Expertise, die die Autoren Christian Sachse, Benjamin Baumgart und Stefanie Knorr während des “Hearings” vorstellten, zeigt, dass vielfach eine "Mehrfachbetroffenheit" von sexualisierter Gewalt vorliegt. Kinder und Jugendliche, die bereits in ihren Familien Übergriffen ausgesetzt waren, wurden als “auffällig” stigmatisiert und in Heime und Jugendwerkhöfe eingewiesen. Dort wurden sie nicht selten erneut Opfer von Missbrauch.

Das Strafrecht sei “täterzentriert” gewesen, so der Historiker Sachse. Vor allem wenn die Täter aus dem Staatsdienst kamen, etwa Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) waren, zog das Ministerium die Untersuchung sofort an sich. Weil die Zugehörigkeit der Täter zum MfS verschleiert werden sollte, bekamen sie zunächst einen neuen, zivilen Beruf, ehe sie sich vor Gericht verantworten musste. “Das Schweigen war organisiert”, so Sachse.

Zwischen 1960 und 1989 habe es in der DDR rund 84.000 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs gegeben. Davon sei es aber nur in etwa 43 Prozent der Fälle zu Verurteilungen gekommen. Sachse schätzt, dass die Dunkelziffer enorm ist. Er geht von einer halben Million Kinder und Jugendliche aus, die in der DDR Missbrauchsopfer wurden. Wie angesichts so einer großen Zahl Aufarbeitung und Entschädigung organisiert werden kann, bleibt eine große Frage.

Für die Betroffenen ist die Aufarbeitung der Vergangenheit auch ein wichtiger Schritt für einen besseren Kinderschutz in der Zukunft. “Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft diese Taten nicht weiter tabuisiert”, so Gerd Keil. Und auch, wenn die Täter heute strafrechtlich nicht mehr zu verfolgen sind, so eint viele der Betroffenen doch ein Wunsch: sie nach all den Jahren endlich beim Namen nennen zu können.

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