1. BuzzFeed
  2. Recherchen

Angeblich gibt es in deutschen Ministerien so gut wie keine sexuelle Belästigung

KommentareDrucken

BuzzFeed News hat alle Bundesministerien angefragt: In sechs Jahren soll es bei mehr als 30.000 Mitarbeitern nur zu 20 Disziplinarverfahren gekommen sein.

Ende März meldete es fast die komplette deutsche Medienlandschaft, vom Spiegel über die Welt bis hin zur Rheinischen Post: „210 Verfahren wegen sexueller Übergriffe in Behörden und Ministerien.“ Grundlage war eine Anfrage der Grünen zu Disziplinarverfahren wegen sittlichen Fehlverhaltens in den Jahren 2010 bis 2016 an die Servicestelle für Disziplinarrecht beim Bundesinnenministerium.

Die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws sah damit die #MeToo-Debatte „in der Bundesregierung angekommen“.

BuzzFeed News hat versucht diese Zahlen nachzuvollziehen, doch fast alle Ministerien behaupten, dass es bei ihnen keine Verfahren gegeben hat. BuzzFeed News hat 14 Bundesministerien und fünf oberste Bundesbehörden angerufen und jeweils mindestens drei Mal per E-Mail um konkrete Zahlen zu sexualisierter Gewalt und Belästigung gebeten. Von den angeblich 210 Verfahren konnte BuzzFeed News 190 Verfahren nicht zuordnen.

Auf Nachfrage bestätigten die Ministerien und Behörden lediglich 20 der in der Anfrage angegebenen Verfahren. 20 Verfahren in sechs Jahren bei 19 Behörden mit insgesamt mehr als 30.000 Mitarbeitern.

Die an BuzzFeed News übermittelten Zahlen widersprechen damit fundamental den Zahlen, welche das Bundesinnenministerium der Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner im März mitgeteilt hatte.

BuzzFeed News hat das Bundesinnenministerium seit Ende März mehrfach sowohl telefonisch als auch per E-Mail darum gebeten, diese Diskrepanz zu erklären. Bislang hat das Ministerium dafür keine Erklärung gegeben.

Zudem ist die Dunkelziffer offenbar groß. Keines der Ministerien erfasst, wie häufig sich Menschen an Beschwerdestellen wie den Personalrat oder die Gleichstellungsbeauftragte wenden. In die Statistik gehen ausschließlich abgeschlossene Disziplinarverfahren ein. Und selbst bei denen wird BuzzFeed News nicht mitgeteilt, wie diese Verfahren ausgegangen sind.

Die Ministerien verweisen in der Begründung für dieses Vorgehen fast alle auf „Schutz von Persönlichkeitsrechten“. BuzzFeed News hat jedoch nicht nach individuell identifizierbaren Fällen, sondern nach Gesamtzahlen gefragt. Ein Rückschluss auf Einzelpersonen ist angesichts der Mitarbeiterzahl in einem Ministerium ohnehin schwer vorstellbar.

„Besonders schwierig, Übergriffe zu melden“

„Ministerien sind von Hierarchien und Abhängigkeitsstrukturen geprägt. In so einem Kontext ist es dort, ebenso wie in vergleichbaren Arbeitsbranchen, für Betroffene schwierig, sexistische und sexualisierte Übergriffe zu melden“, schreibt Ulle Schauws von den Grünen auf Anfrage. Gerade in den Bundesministerien müssten deshalb besondere Schutzmaßnahmen ergriffen werden.

„Wenn auf diese Meldung dann kaum Konsequenzen folgen, stehen die Betroffene alleine da und im Regen. Das darf nicht länger so bleiben“, schreibt Schauws.

Diese Recherche zeigt, warum es so schwierig ist, Machtmissbrauch in Institutionen öffentlich zu machen. Nicht nur fehlt es an schlüssigen Zahlen, die Ministerien verstecken sich vielfach auch hinter leeren Phrasen wie „bei uns wird keine Diskrimierung geduldet“. Was genau das in der Praxis bedeutet, bleibt dabei völlig unklar, denn gleichzeitig gibt es offenbar kein Monitoring der zuständigen Beschwerdestellen oder zumindest wird dieses Monitoring nicht transparent gemacht.

Neben der fehlenden Transparenz gibt es offenbar auch ein fehlendes Problembewusstsein. Alle 14 Bundesministerien betonen, dass sie sexualisierte Gewalt sehr ernst nehmen und Diskriminierung nicht dulden. Allerdings führt kein einziges Ministerium verpflichtende Fortbildungen für Führungskräfte durch, in denen sexualisierte Gewalt und Belästigung thematisiert werden. Stattdessen können Interessierte ein freiwilliges Seminar der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung mit dem Titel „Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz (Mobbing, sexuelle Belästigung) erkennen und bewältigen“.

Ulle Schauws kritisiert, dass besonders die Ministerien mit gutem Beispiel voran gehen müssten. „Der öffentliche Dienst und ganz besonders die Bundesministerien sollten Vorbild für eine Führungskultur sein, in der es selbstverständlich ist, dass Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz geahndet werden", schreibt Schauws.

Auf welche Ministerien entfallen die fehlenden Verfahren?

Vier Ministerien geben BuzzFeed News gegenüber an, dass es bei ihnen oder einer dem Ministerium nachgelagerten Behörde zwischen 2010 und 2016 zu Disziplinarverfahren wegen sittlichen Fehlverhaltens gekommen ist: das Bundesministerium für Inneres, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.

Von diesen vier Ministerien geht wiederum nur das Ministerium für Umwelt auf einen konkreten Fall ein. „Von den in der Disziplinarstatistik genannten Fällen entfällt einer auf das Umweltbundesamt. Ermittelt wurde gegen einen männlichen Vorgesetzten wegen sittlichen Verfehlungen im Dienst und Pflichtverletzung im Vorgesetztenverhältnis. Das Verfahren wurde nach Abschluss der Ermittlung eingestellt, da der Vorwurf nicht bewiesen war.“

Aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesfinanzministerium heißt es, in den Jahren 2016 und 2017 habe es eine geringe Anzahl an Vorwürfen oder informellen Anfragen gegeben, in keinem dieser Fälle sei es aber anschließend zu einem Disziplinarverfahren gekommen.

Das Bundesministerium für Verkehr meldete auf Anfrage von BuzzFeed News mit 17 Verfahren zwischen 2010 und 2016 die meisten Fälle. Dabei ging es häufiger um Fälle von „sittlichem Fehlverhalten“ außerhalb des Dienstes.

Aus diesen Zahlen kann man allerdings nicht ableiten, dass es im Bundesverkehrsministerium auch die meisten Probleme gibt. Es ist genauso denkbar, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich hier häufiger trauen, Vorfälle zu melden.

Jede 6. Frau hat am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung erlebt

BuzzFeed.de
BuzzFeed.de © BuzzFeed News

Statistisch gesehen sind eher die Rückmeldungen aus den anderen Ministerien auffällig. Denn geht man davon aus, dass sexualisierte Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz in Bundesministerien genauso häufig vorkommt, wie in der Gesamtbevölkerung, müsste es eigentlich viel mehr Fälle geben.

So schreibt etwa das Bundesjustizministerium auf Anfrage: „An die Personalverwaltung ist niemand mit einem entsprechenden Anliegen herangetreten. Konkrete Fälle von sexualisierter Gewalt/Belästigung sind der Personalverwaltung auch von den genannten Anlaufstellen nicht genannt worden. Daher ist es der Personalverwaltung nicht bekannt, ob und gegebenenfalls in wie vielen Fällen sich Betroffene möglicherweise [...] an diese Anlaufstellen gewandt haben.“

Jede sechste Frau in Deutschland hat schon einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Das ergab 2015 eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

„Wir müssen davon ausgehen, dass an jedem Arbeitsort belästigt wird. Jeder Arbeitsplatz muss sich dazu aufstellen“, sagt Anita Eckhardt, vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). Es sei ein Problem, die Beschäftigung mit dem Thema als Makel zu betrachten. Häufig gäbe es „irgendwo eine Dienstvereinbarung“, die dann aber keiner kenne.

Auch in einer Antwort des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie an BuzzFeed News heißt es: „Eine Hausmitteilung informiert die Beschäftigten des BMWi über die Beschwerdestelle gem. § 13 AGG. Die „Dienstvereinbarung Partnerschaftliches Verhalten am Arbeitsplatz“ bezweckt zudem den Schutz der Beschäftigten vor Mobbing, sexueller Belästigung und Diskriminierung.“

Wie genau nun aber sichergestellt wird, dass diese Vereinbarungen durchgesetzt werden und wie sie kontrolliert werden, das bleibt offen.

Expertin fordert verpflichtende Fortbildung

Deshalb seien verpflichtende Fortbildungen auch so wichtig, sagt Anita Eckhardt vom bff. Viele Vorgesetzte wüssten nicht genug über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. „Man muss denen sagen, dass sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, ihre Arbeitnehmer zu schützen. Das ist nicht freiwillig.“

Für Ulle Schauws ist eine Kultur der Gleichberechtigung und des Gewaltschutzes in vielen Bundesministerien nicht zu erkennen. „Und ein Innenministerium, dass ausschließlich Männer an die Spitze setzt, hat offenbar nicht einmal den Willen, Frauen auf Augenhöhe zu bringen. Da hat die Bundesregierung großen Nachholbedarf“, so Schauws.

Auch interessant

Kommentare