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Frauenhäuser müssen jährlich tausende Opfer von häuslicher Gewalt abweisen

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Zehntausende Frauen suchen in Deutschland jährlich Schutz vor Gewalt – doch es fehlen Kapazitäten und Geld, um alle unterzubringen. Das zeigt eine bundesweite Recherche von BuzzFeed News

Jede vierte Frau in Deutschland erfährt in der Partnerschaft körperliche oder sexuelle Gewalt. Doch mindestens 13.000 Frauen, die jährlich Schutz vor Gewalt suchen, werden bei Frauenhäusern abgewiesen, weil nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen. Das ergeben Recherchen von BuzzFeed News.

In Bayern findet etwa jede zweite Frau, die Hilfe sucht, keinen Platz. In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2015 über 6.000 Frauen abgewiesen, rund zwei Drittel davon wegen Überbelegung. In Schleswig-Holstein erfolgte 2016 auf fast 4000 Anrufe keine Vermittlung.

BuzzFeed News hat bundesweit alle zuständigen Ministerien und Verwaltungsbehörden nach der Situation der Frauenhäuser befragt. Rund 7000 Plätze in 367 Frauenhäusern und sogenannten Schutzwohnungen gibt es in Deutschland. Der Bedarf ist jedoch mehr als doppelt so hoch: 18.000 Frauen suchen jährlich Schutz in Frauenhäusern, so eine Schätzung des Zusammenschluss der autonomen Frauenhäuser in Deutschland.

Es fehlt an Geld: Nur 20 Cent pro Bürgerin und Bürger stellen einige Bundesländer für die Finanzierung bereit. Viele Frauen bleiben länger in den Schutzeinrichtungen als noch vor zehn Jahren, weil sie keinen Weg zurück auf den Wohnungsmarkt finden. Die Bundesregierung ist seit Jahren über die Probleme informiert, zuständig sind jedoch die Bundesländer. Abhilfe könnte nun ein neues Abkommen des Europarats schaffen. Am 12. Oktober unterzeichnete Deutschland die „Istanbul-Konvention“ zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Tausende Opfer von sexueller Gewalt werden jährlich von den Frauenhäusern abgewiesen.

Wie hoch die Zahl der abgewiesenen Frauen in Deutschland genau ist, ist schwer zu sagen, denn für Betroffene gibt es keine Wartelisten und einige werden an andere Häuser oder Beratungsstellen weitervermittelt. Nach Recherchen von BuzzFeed News wurden 2016 mindestens 13.500 Frauen aus sechs Bundesländern wegen Überbelegung zunächst abgewiesen.

Sieben Bundesländer konnten auf Nachfrage von BuzzFeed News keine Angaben dazu machen – die tatsächliche Zahl dürfte also noch wesentlich höher liegen. Hinzu kommt die Zahl betroffener Kinder, die sich zusammen mit ihren Müttern in einer Notsituation befinden.

Abgewiesene Frauenhaus-Gesuche 2016.

Doppelzählungen sind möglich.

Plätze für Frauen in Frauenhäusern.

„Jede Frau hat das Recht auf ein gewaltfreies Leben“, sagt Sozialpädagogin Tanja, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, aus dem Berliner Frauenhaus Hestia e.V. . Wer dort einen Platz bekommt, erhält auch Unterstützung bei Amtsterminen und der Beantragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Kinder. Das Frauenhaus ist regelmäßig bis auf einen freien Platz belegt, erzählt die Mitarbeiterin BuzzFeed News.

Im Jahr 2015 wurden bundesweit 127.457 Personen Opfer von Mord und Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Bedrohung und Stalking durch ihre Partner oder Ex-Partner. Davon waren knapp 82 Prozent Frauen, dokumentiert das Parlament der Bremischen Bürgerschaft Anfang diesen Jahres.

Oft rufe die Polizei an und es gäbe keinen Platz mehr, sagt die Sozialarbeiterin. Dann ginge es ins Hostel, zu Freunden – oder zurück zum Partner. Was helfen würde? Mehr Personal, Geld für Dolmetscher und mehr Plätze.

Viele Betroffene verlassen ihren Partner nicht, weil sie niemanden haben, der ihnen helfen kann.

Wie notwendig eine schnelle und sichere Aufnahme in einer Notsituation ist, weiß Caro, deren Namen BuzzFeed News ebenfalls verändert hat.

Mit sieben Jahren floh sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern vor der Gewalt des Vaters. „Es hatte sich zu Hause so hochgeschaukelt, dass die Polizei uns ins Frauenhaus gebracht hat.”

Sie konnte mit ihrer Familie nach dem Auszug ein neues Leben beginnen, doch mit der Trennung vom Vater fehlte das zweite Gehalt. “Meine Mutter hat sich für das kleinste Übel entschieden, und wir sind in eine Plattenbausiedlung gezogen”, erinnert sie sich. Von da an lebten sie abgeschottet von ihrem Vater, der sich in psychische Behandlung begab.

Frauenhäuser in Deutschland Seit 41 Jahren gibt es in Deutschland Frauenhäuser. Das Erste wurde 1967 in Berlin eröffnet. Sie bieten Frauen und ihren Kinder, die von häuslicher Gewalt bedroht sind, temporär Zuflucht. Mehr als ein Drittel der über 350 Frauenhäuser in Deutschland bezeichnen sich als „Autonome Frauenhäuser“. Im Gegensatz zu Trägern wie etwa der Caritas sind sie konfessions- und parteiunabhängig.

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„In der Situation war es die beste Entscheidung, die meine Mutter treffen konnte”, sagt die 27-Jährige heute. “Wir konnten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nur das Nötigste mitnehmen und waren auf einmal in diesem fremden Gebäude, in einem Zimmer mit Doppelstockbetten, das auf einmal unsere neue Realität war.” Freundinnen kamen sie von da an nicht mehr zum Spielen besuchen – denn wo die Frauenhäuser sich befinden, wird zum Schutz von Frauen und Kindern geheim gehalten. Ihre Mutter ging täglich arbeiten. „Sie hat uns trotzdem jeden Tag zur Schule gebracht, weil sie Angst hatte. Keiner wusste, in welchem Zustand sich mein Vater befindet.”

“Zu wenige trauen sich, ihren Partner überhaupt zu verlassen, weil sie niemanden haben, der ihnen helfen könnte”, ist auch die Betroffene Sandra, deren Namen ebenfalls geändert ist, überzeugt.

Die 41-Jährige verließ ihren Mann lange nicht, weil sie Angst hatte, erzählt sie BuzzFeed News. Viele Frauen, sagt sie, zögerten lange, weil sie Angst hätten, dass ihre Fälle nicht drastisch genug seien, damit die Behörden wirklich einschreiten. Dieses Risiko wollten viele Frauen nicht eingehen.

Weltweit wehren sich derzeit Frauen unter dem Hashtag #MeToo gegen Sexismus und sexuelle Gewalt.

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BuzzFeed.de © Bertrand Guay / AFP / Getty Images

Ihr Mann schlug sie, nahm Drogen und trank. Als Sandra endlich vor ihm floh, hatte sie nichts dabei außer die gelben Mutter-Kind-Pässe ihrer Kinder. Ihre Eltern brachten sie aus der Stadt und suchten mit ihr einen Platz in einem Frauenhaus in sicherer Entfernung. „Ich hätte nicht gewusst, wohin ich sonst soll“, sagt sie. Mit ihren vier Kindern bekam sie ein Zimmer zugewiesen und blieb sieben Monate in der Einrichtung.

Die Frauen bleiben länger in den Frauenhäusern – und der Bedarf wächst.

Schwierigkeiten haben vor allem Frauen mit mehreren Kindern oder älteren Söhnen – die ab 12 Jahren häufig keinen Zugang mehr zu den Frauenhäusern haben oder Frauen, die auf einen barrierearmen Platz angewiesen sind, der zum Beispiel mit dem Rollstuhl zugänglich ist.

Vor allem aber sind die steigenden Mietpreise ein Problem. Sie sind einer der Gründe, warum viele Frauen länger in den Schutzunterkünften bleiben, als früher. Sechs Bundesländer gaben auf Nachfrage an, die Verweildauer sei in den letzten 10 Jahren gestiegen, darunter Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz.

„Der Anteil der Frauen, die deutlich länger als drei Monate im Frauenhaus verbleiben, ist seit 2010 gestiegen”, bestätigt auch Christoph Lang, Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen. Die Senatsverwaltung teilt BuzzFeed News mit, dass Frauen in Berlin durchschnittlich 52 Tage in den Einrichtungen bleiben. „Für das Jahr 2016 ist ein Anstieg der Belegungszahlen, insbesondere ein auffallend hoher Zuwachs bei den Kindern zu verzeichnen. Insgesamt wurden 53 Frauen und 129 Kinder mehr als im Vorjahr aufgenommen.“

„Damit verbunden hat die Auslastung im Vergleich zu den Vorjahren einen Höchststand von 93,36 Prozent erreicht,” schreibt Senatsverwaltung in ihrem Bericht zu häuslicher Gewalt in Berlin. Dies sei der schwierigen Lage auf dem Wohnungsmarkt sowie verschiedenen Problemen geschuldet, erklärt Sprecher Christoph Lang. Neben häuslicher Gewalt gehört dazu Sucht oder Überschuldung.

In Berlin sind im Haushaltsplan 2018/2019 neue Schutzeinrichtungen eingeplant. Außerdem soll das Angebot an betreuten Wohnungen weiter ausgebaut werden. Rund 332 solcher Plätze stehen derzeit zur Verfügung.

Zudem soll mit präventiven Angeboten an Kindertagesstätten und Grundschulen die Gewalt insgesamt bekämpft werden. „Es kann davon ausgegangen werden, dass männliche Gewalttäter zu einem großen Teil selbst Opfer von Gewalt sind und diese Gewalterfahrungen einen Einfluss auf ihre eigene Gesundheit sowie ihr gewaltaffines Verhalten haben”, heißt es im Landesaktionsplan der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.

Die Situation ist der Bundesregierung schon länger bekannt

Der Bundesregierung ist das Problem länger bekannt. Sie wurde in einem Bericht zur Situation der Frauenhäuser von 2012 vom Bundesfamilienministerium über die Notlage informiert: „Ein Viertel aller Einrichtungen (Frauenhäuser) hat für Klientinnen je nach aktueller Situation Wartezeiten von zwei bis fünf Wochen” heißt es darin. Immerhin erhielten die Klientinnen von Fachberatungsstellen innerhalb von wenigen Tagen einen Termin für eine Erstberatung.

Die Finanzierung ist jedoch Ländersache – vom Bund ist also derzeit keine Unterstützung zu erwarten. Vertreterinnen der autonomen Frauenhäuser fordern deshalb eine bundesweite Regelung zur Finanzierung.

20 Cent für den Schutz von Frauen

Insgesamt rund 33 Millionen Euro wurde 2016 bundesweit für Frauenhäuser aufgewendet, zeigt die Recherche von BuzzFeed News. Die Frauenhäuser finanzieren sich teils über Spenden und einkommensabhängige Tagessätze, welche die Betroffenen zahlen, teils über den Haushalt der jeweiligen Kommunen oder der Bundesländer.

Wie viel Mittel die einzelnen Bundesländer ausgeben, variiert stark. Ganz vorne liegt Nordrhein-Westfalen: Im letzten Jahr wurden über 9 Millionen Euro zur Verfügung gestellt unter anderem für Personalkosten und Sachausgaben. Trotzdem sind auch die Frauenhäuser in NRW überlastet.

Finanzielle Aufwendung für Frauenhäuser 2016.

Baden-Württemberg machte keine Angaben.

Auf EU-Ebene ist die sogenannte „Istanbul-Konvention“ ein großer Schritt zu besserem Schutz von Frauen. Am 12. Oktober 2017 ratifizierte auch Deutschland als 25. Staat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Deutschland hat sich damit verpflichtet, einen Plan vorzulegen, wie Frauen künftig besser geschützt werden können und genügend Frauenhausplätze bereitgestellt werden. Gültig ist dieser ab 1. Februar 2018.

Angelehnt an die Empfehlung der Istanbul-Konvention wäre das ein Familienzimmer auf 10.000 Einwohner. Doch derzeit ist man noch weit davon entfernt. Rechnet man die Rechercheergebnisse von BuzzFeed News aus allen Bundesländern hoch, gibt es im Schnitt nur für jeden 13.000-sten Bewohner einen Schutzplatz. Am schlechtesten schneidet Niedersachsen mit einem Platz je 22.000 Einwohner ab, wesentlich besser etwa Bremen mit einem Platz für jeden 6.400-sten Einwohner.

Rechnet man aus, wie viel Geld die einzelnen Bundesländer durchschnittlich pro Bürgerin und Bürger für die Schutzunterkünfte ausgeben, liegen Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen ganz hinten. Sie geben im Schnitt nicht mehr als 20 Cent pro Einwohner aus.

Falls du von häuslicher Gewalt betroffen bist, kannst du dich an das Hilfetelefon 08000 116 116, soziale Einrichtungen oder die Polizei wenden.

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