1. BuzzFeed
  2. Recherchen

NATO-Quellen: Die Türkei nutzt deutsche und amerikanische Inhaftierte als Geiseln

KommentareDrucken

Die Türkei hat deutsche und amerikanische Staatsbürger offenbar mit Kalkül inhaftiert. Das Ziel: die Auslieferung von geflohenen Türken und mutmaßlichen Putschisten zu erpressen. Dabei schreckt die Türkei offenbar auch nicht davor zurück, NATO-Truppen zu verraten.

Demonstranten mit Schildern von in der Türkei verhafteten Journalisten vor der türkischen Botschaft in Berlin.
Demonstranten mit Schildern von in der Türkei verhafteten Journalisten vor der türkischen Botschaft in Berlin. © Sean Gallup / Getty Images

BRÜSSEL — Die Türkei setzt offenbar verstärkt auf "Geisel-Diplomatie". Mehrere deutsche und amerikanische Staatsbürger seien unter dem Vorwand des Terrorismus-Verdachts inhaftiert worden, um so die USA und Deutschland zu zwingen, türkische Staatsangehörige auszuliefern. Das bestätigten mehrere aktuelle und ehemalige Sicherheitsbeamten in Europa und den USA gegenüber BuzzFeed News.

Unter den genannten Namen ist auch der deutsche Journalist Deniz Yücel, der im Februar inhaftiert wurde, sowie Andrew Brunson, ein amerikanischer Priester, der seit 20 Jahren in der Türkei lebt und vor 10 Monaten in Haft kam.

Mitarbeiter europäischer Sicherheitsbehörden, die aufgrund der angespannten Lage sich nur anonym äußern wollten, sehen eine deutliche Verbindung zwischen der Verhaftung von Amerikanern und Europäern und Forderungen nach einer Auslieferung solcher türkischer Staatsangehöriger, die von der Türkei für den im vergangenen Jahr gescheiterten Putschversuch gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan verantwortlich gemacht werden.

"Die Türken hatten keine Hemmungen, diese Verhaftungen mit Türken in den USA und Deutschland in Verbindung zu bringen, die sie zurück wollen", bestätigte ein europäischer Polizeibeamter gegenüber BuzzFeed News. "Wir sind dabei, unsere eigenen Leute zu warnen, damit sie ein Auge hierauf haben."

Am Donnerstag wurde Außenminister Sigmar Gabriel im Interview bei BuzzFeed News auf die Frage, warum Deniz Yücel noch nicht frei ist, dann deutlicher: „Weil die Türkei, nach meiner Einschätzung, ihn als Geisel in Gefangenschaft hält" - einer der seltenen Momente, in denen ein westlicher Politiker das Vorgehen unumwunden so nannte, wie Sicherheitskreise das gegenüber BuzzFeed News seit Wochen tun.

Mitglieder aus der Trump-Administration blieben hier zurückhaltender. Außenminister Rex Tillerson sagte lediglich, Brunsons Freilassung habe oberste Priorität. Doch deutlicher wurde das Außenministerium nicht und weigerte sich auch, für ein ausführlicheres Interview in der Angelegenheit zur Verfügung zu stehen. Auch die türkischen Botschaften in Berlin, Brüssel und Washington haben auf unsere Bitte nach einem Statement nicht reagiert.

Türkische Wunschliste für Auslieferungen

Ganz oben auf der türkischen Wunschliste für eine Auslieferung steht Fethullah Gulen, der in den USA lebt und von dem Erdogan-Unterstützer behaupten, er stecke hinter dem Putsch. Die US-Behörden haben bis heute seine Auslieferung verweigert - mit der Begründung, es fehle an stichhaltigen Beweisen dafür.

Die Türkei will weiterhin die Auslieferung von rund einem Dutzend türkischer Offiziere von Deutschland erreichen, die während des Coups im Land waren und nun in der Bundesrepublik politisches Asyl beantragt haben.

Am Wochenende wurde der Bundesregierung außerdem eine Diplomatische Note übergeben, mit der die Türkei die Auslieferung eines prominenten Geistlichen fordert, der ebenfalls zu den Putschistenführern gehören soll: Adil Oksuz. Oksuz soll sich in Baden-Württemberg aufhalten und ebenfalls Asyl beantragt haben. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schaefer, sagte, Deutschland werde nun in einem rechtsstaatlichen Verfahren dieses Ersuchen prüfen.

"Terrorpropaganda" - Deutsche in der Türkei in Haft

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland erreichten in den vergangenen Wochen einen neuen Tiefpunkt, als in der Türkei Peter Steudtner verhaftet wurde, Mitglied der deutschen Sektion von Amnesty International. Steudtner ist damit ein weiterer Name auf einer für deutsche Behörden schon längst zu langen Liste von Verhafteten, darunter auch Deniz Yücel und Mesale Tolu: eine deutschen Übersetzerin, die mit ihrem zwei Jahre alten Sohn im Gefängnis sitzt, weil ihr Terrorpropaganda und die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen werden. Der Staatsanwalt hat in ihrem Fall 15 Jahre Haft gefordert.

Menschen protestieren am 3. Mail 2017 vor der türkischen Botschaft in Berlin.
Menschen protestieren am 3. Mail 2017 vor der türkischen Botschaft in Berlin. © Odd Andersen / AFP / Getty Images

„Die Fälle von Peter Steudtner, Deniz Yücel und Mesale Tolu stehen beispielhaft für die abwegigen Vorwürfe von „Terrorpropaganda“, die offensichtlich dazu dienen, jede kritische Stimme zum Schweigen zu bringen, derer man habhaft werden kann, auch aus Deutschland, sagte Außenminister Gabriel nach einem Gespräch mit Kanzlerin Merkel am 20. Juli.

Mindestens 22 Deutsche sind bislang inhaftiert worden, neun davon sitzen noch immer in Haft. Wie viele Amerikaner verhaftet wurden, ist unklar. Verschiedene Quellen sprechen von vier, aber eindeutig identifizierbar sind nur zwei: Brunson, der Priester, dem die Unterstützung militanter kurdischer Organisationen vorgeworfen wird, und Serkan Gole, ein türkisch-amerikanischer Wissenschaftler, der für die NASA arbeitet.

Mittlerweile seien die türkischen Forderungen nach Auslieferung geflohener nicht mehr auf Menschen begrenzt, die am Putsch beteiligt sein sollen, sagen Regierungsvertreter und Analysten, die die Entwicklung mit wachsender Sorge beobachten. So wird auch die Überstellung von Reza Zarrab gefordert, dem noch in diesem Jahr in New York ein Prozess droht. Er soll einen massiven Öl-gegen-Gold-Schwarzhandel zwischen der Türkei und Iran betrieben und dabei internationale Sanktionen umgangen haben. Der Fall erregte Aufmerksamkeit, weil Zarrab's Anwalt der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani ist, ein Vertrauter von US-Präsident Donald Trump und bemüht sich dem Vernehmen nach um eine "diplomatische Lösung".

Eric Edelman, von 2003 bis 2005 US-Botschafter in der Türkei, brachte Giulianis Rolle zur Sprache und verwies darauf, dass Erdogan den Fall mit US-Außenminister Tillerson und der Trump-Administration persönlich erwähnt habe. Das Mindeste also, was man sagen könne, so Edelmann, ist, dass diese Gespräche "den Eindruck erwecken, dass die türkische Regierung sich mit Geisel-Diplomatie beschäftigt."

"Das ist die neue Türkei!"

Erdogan seinerseits machte relativ deutlich, was sein Ziel ist: Deutschland und die USA zur Kooperation zu zwingen - zur Mithilfe in dem, was er "Strafverfolgung der Verdächtigen Putschisten" nannte. In einer Rede auf einer AKP-Veranstaltung am 8. August sagte er, die Türkei werde die Inhaftierten nur freilassen "im Austausch für Zugeständnisse bei der Auslieferung."

Der türlkische Präsident Erdogan bei einer Rede zum Jahrestag des niedergeschlagenen Putschs am 13. Juli 2017.
Der türlkische Präsident Erdogan bei einer Rede zum Jahrestag des niedergeschlagenen Putschs am 13. Juli 2017. © Adem Altan / AFP / Getty Images

"Ihr füttert diese Terroristen und dann sagt ihr uns, wir sollen jemanden freilassen... Als erstes werdet ihr uns etwas geben und dann werdet ihr etwas von uns bekommen. Das hier ist nicht länger die alte Türkei, das ist die neue Türkei", sagte Erdogan in Richtung USA.

Das Verhalten der Türkei wird aufmerksam auch von anderen europäischen Nationen beobachtet, vor allem vom NATO-Hauptquartier in Brüssel aus. Fünf hochrangige Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden haben gegenüber BuzzFeed News in den vergangenen Wochen bestätigt, einen internen Prozess mit dem Ziel ausgelöst zu haben, ihre Regierungen zu warnen. Türkische Sicherheitskräfte könnten die Verhaftungen von Europäern wegen zweifelhafter Anklagen anstreben, lautet die Warnung - um die "Geiseldiplomatie", so die Worte von drei der Beamten, voranzutreiben.

Ein NATO-Militärgeheimdienst-Offizier beschrieb das Muster der Verhaftungen und öffentlichen Anschuldigungen gegen Ausländer als besonders schwierig, da die Verhaftungen willkürlich zu sein scheinen. "Jetzt haben wir die ungünstige Situation, dass die Türkei die Verhaftung von Bürgern anderer Länder als Hebelwirkung zu sehen scheint für ihre Jagd auf Gülenisten und Offiziere - eine Jagd, die sich eher wie eine paranoide Säuberung anfühlt", sagte der Offizier.

"Ich denke nicht, dass das Zufall ist"

Die Spannungen zwischen den NATO-Verbündeten verschärfen eine angespannte Situation noch, die bereits eine breite Palette von NATO-Themen betrifft, darunter auch den US-geführten Einsatz gegen den sogenannten "Islamischen Staat". Nach dem Putschversuch hatte die Türkei für zwei Tage den Zugang zur Luftbasis Incirlik abgeschnitten und deren Stromversorgung unterbrochen. Die Anti-IS-Koalition aber ist auf ebenjene Basis angewiesen. Die USA haben daraufhin die Angehörigen der 2.500 US-Militärs evakuiert und für Amerikaner, die in die Türkei reisen, eine Reisewarnung aufgrund der politischen Unruhen und eines wachsenden Anti-Amerikanismus ausgesprochen.

Ein von einem deutschen "Tornado"-Kampfflugzeug in die Luftwaffenbasis Incirlik übertragenes Kamerabild.
Ein von einem deutschen "Tornado"-Kampfflugzeug in die Luftwaffenbasis Incirlik übertragenes Kamerabild. © Tobias Schwarz / AFP / Getty Images

Auch Deutschland sprach eine Reisewarnung für Deutsche, die in die Türkei reisen oder dort investieren wollten, aus. Bereits Anfang des Jahres zeigte sich Erdogan verärgert, nachdem ihm und seinen Ministern Wahlkampfauftritte in Deutschland untersagt worden waren. Die Türkei revanchierte sich, indem sie 700 deutsche Unternehmen auf eine Liste von Firmen setze, die der Terrorfinanzierung verdächtig sein sollen - eine Formulierung, die sie schon wenig später wieder zurücknahm.

Aykan Erdemir, ein renommierter Wissenschafter der "Foundation for Defense of Democracies" in Washington und ehemaliger Parlamentsabgeordneter in der Türkei, nannte die Beziehungen zwischen der Türkei, den USA und Deutschland zunehmend besorgniserregend:

"Vor allem seit dem Putschversuch beginnt die AKP systematisch, Stimmung gegen den Westen zu machen und Verschwörungstheorien zu lancieren - nicht nur gegen Deutschland, sondern gegen eine ganze Reihe von NATO-Mitgliedern", so der Experte. "So, wie wir das schon einige Male in den staatlich kontrollierten Medien gesehen haben, wird es auch weiterhin Schmierstücke geben, die die westlichen Verbündeten der Türkei für so ziemlich alles, was in der Türkei schief geht, verantwortlich machen."

Erdemir ging so weit, die Türkei mit dem Iran zu vergleichen, der "religiöse Minderheiten und ausländische Geiseln benutze, um internationale Vereinbarungen zu erzwingen." "Ich denke nicht, dass das Zufall ist", sagte er.

"Historischer Verrat" in der NATO

Zu den Spannungen kommt noch Wut über die Türkei hinzu, die mit einer Veröffentlichung in der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 19. Juli genaue Standort, Pläne und Größenordnungen amerikanischer, französischer und britischer Streitkräfte in Nord-Syrien öffentlich gemacht hatte.

Das französische Militär war darüber besonders wütend, sagte ein NATO-Militärgeheimdienst-Offizier in Brüssel, denn der Bericht hatte die Anwesenheit von französischen Truppen enthüllt, die dabei waren, in einem aggressiven Vorgehen viele von den hunderten französischen Staatsangehörigen zu eliminieren, die sich ISIS angeschlossen hatten, bevor diese nach Europa zurückkehren konnten. Der Geheimdienst-Offizier sagte, dass die Anwesenheit der Amerikaner in Syrien bekannt war, das französische Programm allerdings geheim gewesen sei und galt als elementar für das Ziel, Angriffe ehemaliger ISIS-Kämpfer in Europa zu verhindern.

"Eine geheime NATO-Operation, die Terroristen töten sollte, bevor diese in Europa Menschen angreifen, ist von einem NATO-Mitglied verraten worden", sagte er. "Das sollte jedem zeigen, wie schlimm es mittlerweile um die Beziehungen steht."

Ein Mitarbeiter des französischen Verteidigungsministeriums, der ebenfalls anonym bleiben wollte, nannte das Ganze einen "historischen Verrat".

"Die Entscheidung, Standorte von NATO-Truppen in Nord-Syrien durch eine Nachrichtenagentur zu enthüllen, die nichts anderes als ein Sprachrohr der AKP ist, war vielleicht der schlimmste absichtliche öffentliche Verrat an einer NATO-Operation durch einen Mitgliedsstaat, den ich in einem Jahrzehnt gesehen habe", sagte er. "Es fühlt sich an, als ob die Türkei in den Händen zynischer Amateure ist."

Mitarbeit: John Hudson in Washington und Marcus Engert in Berlin.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

Auch interessant

Kommentare