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85.000 Deutsche mit Behinderung dürfen nicht wählen – das soll sich jetzt schnell ändern

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Alle Parteien im Bundestag wollen Menschen mit Behinderung das Wahlrecht geben. Trotzdem ist nicht sicher, ob das vor der Bundestagswahl noch klappt.

Menschen mit einer Behinderung sollen wählen dürfen. So steht es in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009. Doch in Deutschland sind fast 85.000 Menschen mit Behinderung von der Bundestagswahl ausgeschlossen. Das trifft alle, die einen gesetzlichen Vertreter in allen Angelegenheiten haben.

Wer darf denn mitbestimmen über den neuen deutschen Bundestag? Alle Parteien sind sich einig: Auch Menschen mit Behinderungen. Aber wie genau das umgesetzt werden kann, das ist weiter strittig.
Wer darf denn mitbestimmen über den neuen deutschen Bundestag? Alle Parteien sind sich einig: Auch Menschen mit Behinderungen. Aber wie genau das umgesetzt werden kann, das ist weiter strittig. © Sean Gallup / Getty Images

Die Bundestagsfraktionen der Linken und Grünen wollen das ändern. Heute diskutiert der Innenausschuss über einen gemeinsamen Gesetzesentwurf der Parteien. Es ist die letzte Chance, den 85.000 Betroffenen rechtzeitig vor der Bundestagswahl noch das Wahlrecht zu verschaffen.

„Die Ausschlüsse sind menschenrechtswidrig und müssen umgehend abgeschafft werden“, sagt Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Linkspartei.

Viele Betroffene würden sehr gerne wählen, sagt Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen. „Das Gericht, das eine Betreuung anordnet, fragt nicht danach, ob die betreute Person eine Wahlentscheidung treffen kann.“

Sollte der Innenausschuss den Gesetzesentwurf von Grünen und Linken heute annehmen, könnten die Betroffenen eventuell schon bei der Bundestagswahl am 24. September mitwählen. Doch ob das klappt, ist fraglich: Bereits im Januar 2013 stellten die Grünen einen ähnlichen Gesetzentwurf vor. Der Antrag wurde damals unter anderem von der SPD abgelehnt.

Eine kurze Rede des Grünen-Bundestagsabgeordneten Markus Kurth zum – am Ende erfolglosen – Gesetzesentwurf der Grünen vor vier Jahren.

Heute will die SPD das Gesetz selbst ändern. „Anstatt Menschen pauschal auszuschließen, müssen sie Unterstützung bekommen, um an Wahlen teilnehmen zu können“, sagt Kerstin Tack, behindertenpolitische Sprecherin der Partei.

Die SPD möchte Menschen mit Behinderung ermöglichen, bei der Wahl Hilfe von anderen Personen in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Ideen der SPD werden laut Tack momentan von der Union blockiert. „Sobald uns der Antrag der Opposition vorliegt, werden wir innerhalb der Koalition klären, wie wir damit umgehen“, sagt Tack.

Union wird Vorschlag der Opposition ablehnen

Obwohl Grüne, Linke und SPD Menschen mit Behinderung die Wahl ermöglichen wollen, könnte der Gesetzesentwurf der Opposition scheitern. Denn die CDU/CSU ist dagegen. Und auch wenn die Union alleine keine Mehrheit hat, kann es sein, dass Koalitionspartner SPD mitzieht – und die 85.000 Betroffenen im September doch nicht mitwählen dürfen.

„Die Unionsfraktion wird den Gesetzentwurf der Opposition ablehnen“, sagt Uwe Schummer, behindertenpolitischer Sprecher der CDU/CSU. Die Partei ist zwar mit der aktuellen Regel auch nicht zufrieden, will das Wahlrecht aber nur im Rahmen einer umfangreichen Reform verändern.

Heute entscheidet sich, ob der Bundestag kommende Woche über den Gesetzesentwurf von Linken und Grünen abstimmen wird.
Heute entscheidet sich, ob der Bundestag kommende Woche über den Gesetzesentwurf von Linken und Grünen abstimmen wird. © Sean Gallup / Getty Images

„Wir wollen ein modernes Betreuungsrecht, das zu einer assistierten Entscheidungsfindung verhilft. In dem Zusammenhang werden wir die Möglichkeit prüfen, dass diese Menschen wählen können“, schreibt die Parteizentrale der CDU auf Anfrage. Ein solches CDU/CSU-Gesamtpaket zur Wahlrechtsreform wird der Union zufolge seit Monaten von der SPD blockiert.

Heute entscheidet sich, ob der Innenausschuss das Gesetz zur Abstimmung weiterreicht. Falls dem so ist, könnte kommende Woche im Bundestag darüber abgestimmt werden, in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause. Falls der Innenausschuss das Gesetz ablehnt, dann bleibt bei der Bundestagswahl alles so, wie es ist. Und über das Wahlrecht von 85.000 Menschen mit Behinderungen müsste vom nächsten Bundestag neu verhandelt werden.

UPDATE

21.06.2017, 17:22

Der Gesetzesentwurf von Linken und Grünen ist im Innenausschuss nicht diskutiert worden. Linke und Grüne haben dazu eine gemeinsame Pressemitteilung versandt. Grünen-Politikerin Corinna Rüffer schreibt, dass sich der Bundestag seit mehr als fünf Jahren mit dem Thema befasse, es eine Studie mit deutlichen Ergebnissen dazu gebe, Erfahrungen in zwei Bundesländern und die Unterstützung der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. „Und jetzt verhindern Union und SPD die Abstimmung zum Thema im Bundestag, weil sie angeblich noch Beratungsbedarf haben. Eine schlechtere Ausrede habe ich selten gehört!“ Die SPD treibe das gleiche falsche Spiel wie bei der Ehe für alle: „Sie plustert sich öffentlich auf, verhindert aber die Abstimmung im Bundestag. Sie schmückt sich mit Positionen, für die sie aber nicht eintritt, wenn’s drauf ankommt.“

Auch die Linken-Abgeordnete Katrin Werner kritisiert die SPD, die ja eigentlich in den vergangenen Wochen mehrfach betont habe, dass sie eine Abschaffung befürworte. „Statt Menschen mit Behinderungen von politischen Grundrechten auszuschließen, muss es vielmehr darum gehen, die notwendigen Unterstützungen zu schaffen, um möglichst vielen Menschen den Zugang zu Wahlen zu ermöglichen.“

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