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Lucie Veith fordert ein Ende der Operationen an intergeschlechtlichen Kindern

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„Man hat einen Kastraten aus mir gemacht. Wir müssen über diese Genitalverstümmelung reden“, sagt Lucie Veith vom Bundesverband Intersexuelle Menschen BuzzFeed News.

Fast 100 Prozent der intersexuellen Personen werden im Laufe ihres Lebens hormonell oder operativ behandelt, weil ihr Geschlecht nicht der Norm entspricht. Oftmals schon im Kleinkindalter. Zu diesem Ergebnis kam eine Umfrage des Deutschen Ethikrates in einer nicht repräsentativen Umfrage von 2012.

Lucie Veith gehört zu den bekanntesten intersexuellen Aktivist*innen in Deutschland und ist selbst betroffen. Als jungem Menschen wurden Veith die Hoden entfernt. „Man hat eine Kastraten aus mir gemacht. Ich hätte Vater werden können.“ sagt Veith heute.

Mit BuzzFeed News hat Lucie Veith über die eigenen Erfahrungen und die Folgen von geschlechtsnormierenden Operationen gesprochen – und was sich nun nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes verändern muss.

Verbot ja oder nein? Darum geht es bei den Operationen

Was wird genau operiert?

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Seit Jahren fordern Fachverbände, das Bundesfamilienministerium, Internationale Menschenrechtsorganisationen ein Verbot der Operationen. Amnesty International etwa kommt in einem Bericht von 2017 zu dem Schluss, bei den Operationen handele es sich um Menschenrechtsverletzung, da sie das Recht auf Unversehrtheit und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung verletzten.

Das Bundesfamilienministerium forderte in einem Positionspapier vor wenigen Wochen ein gesetzliches Verbot, bekam aber keine Unterstützung aus anderen Ministerien.

Die Zahl dieser Eingriffe sinkt nicht, obwohl die Operationen durch verschiedene Revisionen medizinischer Leitlinien seit 2005 begrenzt werden sollten. Das zeigte eine Studie der Humboldt-Universität vom Dezember 2016. Kritisiert werden sie insbesondere, weil sie häufig an Kleinkindern durchgeführt werden, bevor sich eine Geschlechtsidenität entwickelt hat. Ob ein Kind als Junge oder Mädchen lebt, wird dann von Eltern und Medizinern entschieden.

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Lucie Veith weiß aus eigener Erfahrung, was die Operationen für die Betroffenen bedeuten

Lucie Veith bekam am 16.10.2017 den „Preis für das Engagement gegen Diskriminierung“ von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes verliehen.
Lucie Veith bekam am 16.10.2017 den „Preis für das Engagement gegen Diskriminierung“ von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes verliehen. © Stefanie Loos

Was die Operationen für die Betroffenen bedeuten, weiß Veith aus der eigenen Biografie. Mit 23 Jahren wurden die inneren Hoden entfernt, eine Kastration, sagt Veith heute.

„Es gibt über 4000 Variationen der geschlechtlichen Differenzierung, die wissenschaftlich dokumentiert sind. Zu denken es gibt nur eine biologische Mutter oder Vater, ist eine sehr vereinfachte Darstellung“, erklärt Veith.

„Ich bin XY-chromosonal. Meine Eltern haben also einen eher männlichen Menschen gezeugt, ich sah aber – auch im Genitalbereich – immer weiblich aus und wurde von außen als Frau gelesen.

Lucie Veith war bis 2017 Erste Vorsitzende des Vereins für intersexuelle Menschen e.V. und ist für den Landesverband intersexuelle Menschen Niedersachsen tätig, leitet dort das Kompetenzzentrum für Intergeschlechtlichkeit. Dieses Jahr wurde Veith von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit dem Preis für das Engagement gegen Diskriminierung ausgezeichnet.

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Veith gehört zu den Menschen, die auch als XY-Frauen bezeichnet werden. Die Körper produzieren sehr viel Testosteron, das aber von den Rezeptoren nicht erkannt. Veith etwa hatte innere Hoden und eine Prostata, keine Eierstöcke und keinen Bart.

”Man sagte mir, ich würde Krebs bekommen und sterben.“

Mit 23 Jahren wurden Lucie Veith die Hoden entfernt: „Unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Man hat mir gesagt ich würde Krebs bekommen und sterben, wenn die Hoden nicht entfernen würden. Ich war zu dieser Zeit bereits verheiratet, hatte eine gesetzte Identität, eine soziale Rolle gefunden.“

Es hätte keinen Grund gegeben, in den Körper einzugreifen. Aus Angst aber willigte Veith in die Operation ein.

Hätte Veith um die Folgen gewusst, wäre die Entscheidung anders ausgefallen; „Ich habe später aus meinen medizinischen Akten erfahren, dass die Hoden in meinem Körper fertil waren. Das heißt, ich hätte Vater werden können. Ob ich das gewollt und gemacht hätte, weiß ich heute nicht. Aber dass man mir diese Möglichkeit genommen hat, ohne dass ich aufgeklärt worden wäre, verletzt mich bis zum heutigen Tag. Das war eine Erniedrigung. Man hat einen Kastraten aus mir gemacht. Heute ich führe Testosteron zu, weil es mir damit besser geht.“

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So divers die Formen von Intersexualität, so divers ist auch der Umgang damit. Einige Intersexuelle bezeichnen sich klar als Mann oder Frau, andere als intergeschlechtlich. Auch die Frage nach dem Geschlecht ist nicht einfach zu beantworten: Das biologische Geschlecht kann ein anderes sein, als die Identität, mit der die Person lebt – und wie Menschen von außen eine intersexuelle Person einordnen, kann sich wiederum davon unterscheiden. Fragt man Lucie Veith nach dem Geschlecht, klingt die Antwort so:

„Ich lebe in einer weiblichen Rolle, habe aber eine intergeschlechtliche Identität und eine hormonelle Lage, die eher männlich ist. Betrachtet man meine Gonaden [Anm. d. Red.: das Geschlechtsorgan, in dem Sexualhormone und Keimzellen gebildet werden], dann bin ich geschlechtslos, weil meine Hoden entfern wurden. Mein Personenstand ist weiblich, mein Körper in jeder Zelle intergeschlechtlich.“

Die Folgen der Operationen

So komplex die Frage nach dem Geschlecht ist, so weitreichend sind auch die Folgen der Operationen. Nicht alle Intersexuellen, die mit Operationen und Hormonen behandelt wurden, sind unglücklich, bestätigt auch Veith.

Deutscher Ethikrat xxx

Problematisch, so Veith, seien die Operationen dennoch, vor allem bei Kindern, die nicht einwilligen könnten. Die Folgen seien weitreichend, körperlich und psychisch.

„Da wird ein intergeschlechliches Genital zerschnitten und ein Normgeschlecht hergestellt.“ Häufig seien die Menschen traumatisiert. Wenn hormonproduzierende Organe entfernt werden, seien die Personen abhängig von Fremdhormonen. Nervenbahnen werden verletzt, häufig haben die Menschen keine Sensibilität mehr in ihrer Geschlechtsorganen. Manche wollen auf Grund der Gewalterfahrungen durch die Operationen gar keine Partnerschaften mehr eingehen. „Und die psychischen Folgen treiben Menschen in die Einsamkeit.“

Sie seien davon ausgenommen sich selbst zu finden, Familien zu gründen, in individuelle Lebensentwürfe einzutreten. Sehr häufig seien intersexuelle Menschen von den Operationen sogar stark geschädigt. „Wir produzieren da einen Haufen Schwerbehinderter. Aber die Menschen sind nicht krank, sondern Varianten des Lebens.“

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes als Chance

Mit dem Urteil Bundesverfassungsgerichtes steht nun die Frage im Raum, was das für die Operationen an intergeschlechtlichen Kindern bedeutet.

Für Veith war die Entscheidung ein gutes Signal. Bis Ende 2018 muss ein drittes positives Geschlecht rechtlich ermöglicht werden. „Divers“ oder „inter“ könnte dann etwa in der Geburtsurkunde stehen. Ein andere Möglichkeit, welche auch Lucie Veith sich wünschen würde: Den Eintrag gleich ganz streichen. „Ich brauche keinen Personenstand.“, so Veith. Die Zuschreibungen „männlich“ und „weiblich“ seien Zuschreibungen, die nicht wichtig sind. „Das ist ein Stück Papier, das Auskunft über die Geschlechtlichkeit gibt. Ich fühle diese Eindeutigkeit gar nicht.“

Auch der Deutsche Ethikrat sieht die Entscheidung als Chance für eine neue Debatte. Der Vorsitzende Peter Dabrock sagt BuzzFeed News, es stehe nun eine „umfassende Aufarbeitung der schaurigen chirurgischen oder hormonellen Praktiken der Vereindeutigung des Geschlechts aus. Der Beschluss darf kein Ende der gesellschaftlichen Debatte sein, sondern sollte als Anfang einer solchen Debatte über geschlechtliche Identität aufgegriffen werden.“

Veith will weiter gegen die Operationen kämpfen. „Ich versuche es zu verhindern, dass Kinder die jetzt geboren werden, zu Opfern werden. Wie man auf die Idee kommt, ein Genital zu zerschneiden, kann ich nach wie vor überhaupt nicht fassen.“

„Diese Verfassungsgerichtsentscheidung wird diesem Thema hoffentlich Schwung geben. Und wir werden genau über diese Genitalverstümmelung reden. Geschlecht ist ein höchstpersönlicher Rahmen, der grundrechtlich geschützt ist. Das ist nun vom Verfassungsgericht bestätigt.“

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