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So häufig missbrauchen sogenannte „Lebensschützer“ den Nazi-Paragraf 219a

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Hunderte Anzeigen. In nur 5 Prozent der Fälle kommt es zur Verurteilung. Mehr als die Hälfte der Anzeigen stammen von einer einzigen Person. Das zeigt eine Analyse von BuzzFeed News.

BuzzFeed News hat analysiert, wie häufige Ärztinnen und Ärzte nach Paragraf 219a angezeigt werden. Der Paragraf aus dem „Dritten Reich“ stellt Werbung für Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe.

Nur fünf Prozent der Verfahren führten zu einer Verurteilung. Und der Großteil der Anzeigen stammt von einer Person: ein sogenannter „Lebensschützer“ stellte im letzten Jahrzehnt an die 170 Anzeigen.

In den letzten Jahren haben sich die Zahlen der Anzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte mehr als verdoppelt.

Kristina Hänel vor dem Amtsgericht in Gießen.

BuzzFeed.de © dpa

Nur 5 Prozent der Anzeigen führen zu einer Verurteilung

Ingesamt verzeichnet die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (BKA) zwischen 2010 und 2016 mindestens 104 Anzeigen nach §219a. Die tatsächliche Zahl aber dürfte wesentlich höher liegen, da die Kriminalstatistik nur Verfahren erfasst, die an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden. Nimmt eine Staatsanwaltschaft also keine Ermittlung auf, was häufig der Fall sein kann, gehen die Anzeigen nicht in die Statistik ein.

Zwischen 2012 und 2016 gab es laut BKA 78 Anzeigen wegen unerlaubter „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“.

Laut der der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes kam es im selben Zeitrum jedoch nur vier Mal zu einer Verurteilung nach §219a sowie §219b.

Strafverfahren nach §219a/219b zwischen 2010 und 2016

Die vier Verurteilungen stammen jeweils aus den Jahren 2012, 2013, 2015 und 2017. Der Fall von 2017 ist der wohl prominenteste: Die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel zu 6.000 Euro Strafe vom Amtsgericht Gießen löste eine bundesweite Debatte über das umstrittene Abtreibungsgesetz aus. Kristina Hänel hatte auf ihrer Webseite Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen verlinkt.

Angezeigt werden neben Ärztinnen und Ärzten auch Schwangerschaftsberatungsstellen und Kliniken.

Das steht in Paragraf 219a: Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise 1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder 2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt gibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

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Die meisten Anzeigen gab es 2016 in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Berlin

Spitzenreiter bei den Anzeigen ist das Land Sachsen-Anhalt: Sieben mal wurden hier im Jahr 2016 laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) Verfahren gegen Abtreibungsärztinnen und -Ärzte eingeleitet. Es folgt Berlin mit fünf Anzeigen und Sachsen mit vier.

In den Jahren zuvor waren es deutlich weniger. Aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern liegen BuzzFeed News keine Zahlen vor.

In Thüringen gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2016 erstmals seit dem Jahr 2012 überhaupt wieder Anzeigen nach §219a.

Ermittlungsverfahren in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Berlin

Aus Sachsen-Anhalt liegen aus den Jahren 2012 und 2014 keine Zahlen vor.

Die Anzahl der Anzeigen scheint weder mit der Größe des Bundeslandes noch mit der Anzahl der durchgeführten Abtreibungen zusammenzuhängen. So wurden die meisten Abtreibungen im Jahr 2016 eindeutig in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. 21.253 Abtreibungen gibt das Statistische Bundesamt dort an. Jedoch lagen seit 2010 dort nur insgesamt vier Anzeigen vor, zwei davon stammen aus dem Jahr 2016.

Quelle: Bundesamt für Statistik. Nach Bundesland, in dem der Eingriff erfolgte.
Quelle: Bundesamt für Statistik. Nach Bundesland, in dem der Eingriff erfolgte. © BuzzFeed News

Über die Hälfte der Anzeigen stammen von einer Person

Es gibt verschiedene Gruppierungen, die Abtreibungen verbieten wollen oder gegen eine Entschärfung der Abtreibungsgesetze arbeiten. Die sogenannten „Anti-Abtreibungsaktivisten“ nennen sich selbst „Lebensschützer“ und organisieren sich in Gruppen wie „Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren“, „Ärzte für das Leben“ oder der „Initiative Christdemokraten“.

Einer von ihnen ist Klaus Günter Annen. Er betreibt die Webseiten abtreiber.com und babykaust.de, wo Abtreibung unter anderem als „Steigerung des Holocaust“ bezeichnet wird. Abtreibungseingriffe werden dort mit Konzentrationslagern verglichen. Um gegen Abtreibungen zu kämpfen, werden dort verstörende Bilder von angeblichen Schwangerschaftsabbrüchen gezeigt.

Die Seite babykaust.de

BuzzFeed.de © Screenhsot BuzzFeed News / Via babykaust.de

Bilder angeblich abgetriebener Föten auf babykaust.de

MedizinerInnen weisen darauf hin, dass diese Abbildungen unrealistisch sind. Wie Stimmungsmache mit falschen Bildern gemacht wird und welche Bilder der Realität entsprechen, erklärte etwa die Gynäkologin Kristina Hänel auf einer Pressekonferenz im Dezember. © Screenhsot BuzzFeed News / Via babykaust.de

Auf abtreiber.com findet sich eine lange Liste mit Anzeigen, die Annen gegen Frauenärztinnen und -ärzte gestellt hat.

„Ja, die sind alle von mir“, sagt er BuzzFeed News auf Anfrage am Telefon. Glaubt man dieser Aussage, hat Klaus Annen zwischen 2006 und 2016 um die 170 Strafanzeigen wegen Verstößen gegen Paragraf 219a gestellt.

Zwischen 2011 und 2016 stellte er demnach 65 Anzeigen. Das entspricht 62,5 Prozent aller 104 Anzeigen in der Statistik des BKA – über die Hälfte aller Anzeigen der BKA-Statistik in den letzten Jahren gingen damit also auf Annen zurück.

Auf seiner Webseite hat er außerdem die Briefe seiner Anzeigen und teilweise auch die Dokumente der Staatsanwaltschaften verlinkt. Viele der Verfahren wurden von den Staatsanwaltschaften eingestellt.

In einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Bautzen aus dem Jahr 2009 etwa heißt es in der Begründung:

„Ein öffentliches Interesse der Strafverfolgung ist nicht gegeben. Die Schuld wäre als gering anzusehen.

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Oftmals, so geht aus den vielen von Annen verlinkten Dokumenten hervor, sind sich die Frauenärztinnen und -ärzte gar nicht bewusst, dass sie gegen den Paragrafen verstoßen. Das wird aus Begründungen der Staatsanwaltschaften ersichtlich, die sich gegen ein Verfahren entschieden.

„Wir hatten den Paragrafen 219a bis dahin nicht beachtet“, erzählt etwa die Gynäkologin Nora Szász aus Kassel im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Ende August hatte sie eine Strafanzeige im Briefkasten. Nun könnte es erneut zu einem Prozess kommen. Die Praxis wurde nach Aussage des Ärzteblattes drei mal angezeigt. Eine der Anzeigen stammt von Klaus Günter Annen.

Einen Effekt haben die Anzeigen dennoch: die Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, die Information von ihren Webseiten zu entfernen.

Gegen Annen selbst wurden schon einstweilige Verfügungen durch Ärztinnen und Ärzte erwirkt, etwa, sie nicht weiter als „Mörder“ zu bezeichnen. Flugblätter zu verteilen und die Namen der Abtreibungsärztinnen und -ärzte aufzulisten, ist jedoch von der Meinungsfreiheit gedeckt: So entschied es der europäische Gerichtshof 2015.

Die Anzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte nach §219a haben sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt.

Unabhängig von den Anzeigen durch Klaus Günther Annen sind die Zahlen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

Kam es 2015 noch zu 27 Anzeigen, verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik des BKA im Folgejahr 35 Anzeigen. Seit 2010 gab es laut der BKA-Statistik ingesamt 104 Anzeigen. Im Dreijahresvergleich hat sich die Zahl seit 2011 mehr als verdoppelt.

Ermittlungsverfahren bei Paragraf 219a

Zahlen aus der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes, auch bekannt aus einer einer Anfrage an die Bundesregierung der frauenpolitischen Sprecherin der Linken, Cornelia Möhring, von 2006.

BuzzFeed News hat zudem alle Bundesländer nach den Anzeigen in der Landeskriminalstatistik angefragt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik einiger Bundesländern fasst für manche Jahre nur die Gesamtzahl der Anzeigen unter §218 und §219 zusammen, schlüsselt sie aber nicht auf. So lässt sich für einige Jahre und Bundesländer nicht herausfinden, wie viele der Anzeigen auf §219a zurückzuführen sind. Der tatsächliche Wert könnte also noch höher sein.

Neben Anzeigen haben Abtreibungsärztinnen mit Todesdrohungen zu kämpfen

Kristina Hänel vor dem Bundestag.
Kristina Hänel vor dem Bundestag. © BuzzFeed News

Die Ärztin Kristina Hänel bestätigt diese Zahlen aus ihrer eigenen Erfahrung: „Die Anzeigen häufen sich.“ Bei den Anzeigen ginge es jedoch weniger um die Verhinderung einer Straftat als um eine symbolische Geste:

„Die Anzeigen dienen dazu, den Rest der Ärzte ruhig zu halten und dazu zu bringen, ihre Informationen von der Homepage zu nehmen“, so Hänel. Es handele sich um ein Stellvertreterthema: „Es geht nicht um die Verhinderung einzelner Abbrüche, es geht um die gesellschaftliche Kontrolle.“

„Man fühlt sich immer unter Beobachtung"

Jedoch seien die Anzeigen nur einen Bruchteil der Probleme, mit denen Ärztinnen und Ärzte konfrontiert sind, sagt Kristina Hänel gegenüber BuzzFeed News im Gespräch.

„Wir bekommen Emails und Faxe, Anrufe zu Hause, werden auf Veranstaltungen angebrüllt, manchmal steht auch jemand vor der Tür. Auf einem Berliner Fachkongress wurde ich von Abtreibungsgegnern an der Tür namentlich begrüßt. Man fühlt sich immer unter Beobachtung", erzählt die Frauenärztin.

Sie selbst habe dutzende Todesdrohungen erhalten, besonders, seit ihr Fall öffentlich wurde. „In einer Mail stand zum Beispiel: 'Ich möchte dir in deine Semitenhackfresse hauen, bis sich das Hirn auf dem Boden verteilt.' Ich habe dann Strafanzeige gestellt. Aber ich kenne das, auf eine Art habe ich mich schon daran gewöhnt.“

Die Webseite von Kristina Hänel.

BuzzFeed.de © kristinahaenel.de

Hänel will sich davon nicht einschüchtern lassen. Sie vernetze sich zunehmend mit anderen betroffenen Ärztinnen und Ärzten, erzählt sie im Gespräch. Auf ihrer Webseite ist noch immer die Information für Schwangerschaftsabbrüche verlinkt, wegen der die Ärztin verurteilt wurde. Sie ist mittlerweile in Berufung gegangen.

UPDATE:

25.02.2018, 13:27

In einer ersten Version dieses Artikels stand, in nur drei Fällen der Anzeigen käme es zu einer Verurteilung. Tatsächlich handelt es sich um fünf Prozent.

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