1. BuzzFeed
  2. Recherchen

Mehrere Menschen könnten wissen, wer den NSU-Mördern geholfen hat – und werden nicht befragt

KommentareDrucken

Recherchen von BuzzFeed News zeigen, dass beim NSU-Prozess naheliegende Zeugen nicht gehört wurden.

Von Joachim Tornau und Carsten Meyer

Wer hat den Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ geholfen, als sie überall in Deutschland mordeten? Der Münchner NSU-Prozess, der am Donnerstag in die letzte Runde geht, wird diese Frage nicht beantworten.

Der NSU-Prozess mit Beate Zschäpe läuft vor dem Oberlandesgericht München seit vier Jahren. Möglicherweise entscheidende Zeugen wurden offenbar dennoch nicht gehört.
Der NSU-Prozess mit Beate Zschäpe läuft vor dem Oberlandesgericht München seit vier Jahren. Möglicherweise entscheidende Zeugen wurden offenbar dennoch nicht gehört. © Sebastian Widmann / Getty Images

Nach mehr als vier Jahren und 379 Verhandlungstagen geht die Bundesanwaltschaft davon aus: Das NSU-Trio hat allein gehandelt. Neun rassistisch motivierte Morde, der Mord an einer Polizistin, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle – all das soll das alleinige Werk sein von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.

Aber kann das stimmen? Die Anwälte der Opfer werfen den Ermittlern vor, sich für die Suche nach Hinterleuten schlicht nicht interessiert zu haben. Recherchen von BuzzFeed News zum NSU-Tatort Kassel unterstreichen diesen Eindruck.

Ein Strohmann aus Chemnitz

Da wäre etwa Carsten R. Der heute 39-Jährige hatte 1998 als Strohmann eine Wohnung in Chemnitz angemietet, in der sich die späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nach ihrem Untertauchen für ein gutes halbes Jahr versteckten. Dazu wurde Carsten R. im NSU-Prozess lange befragt. Doch wonach sich niemand erkundigte: Von 2001 bis 2007 war der Unterstützer des Trios als Bundeswehrsoldat im nordhessischen Schwalmstadt stationiert. Das liegt gerade einmal 60 Kilometer südlich von Kassel, wo am 6. April 2006 der Internetcafébetreiber Halit Yozgat vom NSU erschossen wurde. Und es war damals eine Hochburg der rechtsextremen Szene in Hessen.

Noch größer – aber mindestens ebenso erstaunlich – ist das Desinteresse der Bundesanwälte an Corryna G. Die rechtsextreme Aktivistin stammt aus Thüringen und könnte Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gekannt haben. Wie diese soll sie in den neunziger Jahren dem rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ angehört haben. In einer „Bildmappe Rechtsextremistischer Gewalttäter“ des Thüringer Landeskriminalamts aus dem Jahr 1997 ist sie sogar die einzige Frau neben Zschäpe. Die Bildmappe liegt BuzzFeed News vor. Später zog sie nach Kassel. Auch als Halit Yozgat vom NSU in Kassel ermordet wurde, lebte sie hier.

So präsentierte sich Corryna G. Ende Juli auf ihrer Facebook-Seite: Sie trägt ein T-Shirt der "Identitären Aktion", einer Rechtsabspaltung der rechtsextremen "Identitären Bewegung", die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. © Screenshot BuzzFeed News

Schon allein das könnte die 48-Jährige zu einer interessanten Zeugin machen. Die Bundesanwaltschaft aber winkt ab. „Von einer Vernehmung wäre nichts Relevantes zu erwarten“, sagt ein Sprecher auf Anfrage von BuzzFeed News. Wirklich nicht? Was zwei frühere Neonazis, die zu jener Zeit mit Corryna G. zu tun hatten, vor den NSU-Untersuchungsausschüssen des Bundestags und des hessischen Landtags zu Protokoll gaben, klingt anders.

Wichtige Verbindungsfigur der Szene

Michael See, der als V-Mann „Tarif“ für das Bundesamt für Verfassungsschutz spitzelte, bezeichnete die rechten Szenen Hessens und Thüringens als ein „ganz eng verwobenes Geflecht“ – und Corryna G. als eine wichtige Verbindungsfigur.

Oliver Podjaski, ehemals Sänger der Rechtsrockband „Hauptkampflinie“, rechnete Corryna G. und ihren langjährigen Lebensgefährten, den heute 50-jährigen Dirk W., dem Umfeld von „Blood and Honour“ zu. Das militante Neonazi-Netzwerk propagierte die Gründung von Terrorzellen namens „Combat 18“ und wurde in Deutschland im Jahr 2000 verboten.

„Also dass sie Teil einer Terrorgruppierung sind, hätte ich jetzt nicht gedacht“, sagte Podjaski. Aber zugetraut hätte er es vor allem Corryna G. durchaus. Wie selbstverständlich habe sie einmal vom „Kochen“ geredet und damit das Zusammenrühren von Chemikalien zum Bombenbau gemeint. „Da habe ich mich schon sehr gewundert.“

Überhaupt fällt auf, wie oft man bei der Kasseler Neonazi-Aktivistin auf Kontakte zum Rechtsterrorismus stößt. Ihr Lebensgefährte Dirk W. amtierte bis zum Verbot 1995 als hessischer Vizevorsitzender der militanten Neonazi-Partei FAP und war von der Kasseler Polizei als möglicher Terrorist zur Beobachtung ausgeschrieben. Das geht aus Akten des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages hervor, die BuzzFeed News vorliegen.

Befreundet mit mehreren Rechtsterroristen

Als Corryna G.s Facebook-Freundesliste vor einigen Jahren noch offen einsehbar war, fanden sich darauf gleich zwei der bekanntesten deutschen Rechtsterroristen: Karl-Heinz Hoffmann, einst Gründer der berüchtigten „Wehrsportgruppe Hoffmann“, und Martin Wiese, der 2003 einen Sprengstoffanschlag auf das Jüdische Zentrum in München geplant hatte.

Und mit dem Neonazi Meinolf Schönborn, der Anfang der neunziger Jahre paramilitärische „Nationale Einsatzkommandos“ aufbauen wollte, muss Corryna G. auch im echten Leben eng verbandelt gewesen sein: Sein Schulungszentrum in Detmold diente ihr zeitweilig als Wohnadresse. Das ergibt sich aus einem Dossier des Landesamtes für Verfassungschutz Hessen aus dem Jahr 2005, das BuzzFeed News vorliegt, und dem Schlussbericht des NSU-Untersuchungssausschusses in NRW.

Wie der im Münchner NSU-Prozess mitangeklagte Holger G. gehörte die bestens vernetzte Kasselerin 1999 zur Hochzeitsgesellschaft des militanten Neonazi-Führers Thorsten Heise. Sie fungierte als Demonstrationsanmelderin und betrieb einschlägige Versandgeschäfte – zunächst in der Nähe von Kassel, dann in Österreich, wohin sie sich im Jahr 2000 zusammen mit Dirk W. abgesetzt hatte, um einer Haftstrafe zu entgehen. Im oberösterreichisch-deutschen Grenzraum, wo sich das Neonazi-Pärchen ansiedelte, fiel den örtlichen Sicherheitsbehörden später eine deutsch-österreichische „Blood and Honour“-Gruppe auf.

Internes Verfassungsschutz-Dossier unterschätzt Corryna G.

Als sich Corryna G. 2003 doch noch der deutschen Justiz stellte und ins Gefängnis musste, wurde sie von der braunen Gefangenenhilfsorganisation HNG unterstützt, die mittlerweile auch verboten ist. Kurz: Corryna G. war in der Szene alles andere als ein kleines Licht. Trotzdem wurde sie von den Sicherheitsbehörden offenbar unterschätzt. „G. scheint vor allem aus materiellen (Versandhandel) und privaten (Väter ihrer Kinder, sonstige Partner) Motiven in der rechtsextremistischen Szene verwurzelt gewesen zu sein“, heißt es im Dossier des hessischen Verfassungsschutzes. „Ein politischer Hintergrund stand vermutlich nie im Vordergrund.“

Das Fahndungsplakat für den NSU: Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Und wer half dem NSU dabei, jahrelang im Untergrund zu leben, zehn Morde zu begehen und 15 Banken zu überfallen?
Das Fahndungsplakat für den NSU: Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Und wer half dem NSU dabei, jahrelang im Untergrund zu leben, zehn Morde zu begehen und 15 Banken zu überfallen? © Alex Grimm / Getty Images

Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wurde zudem bekannt, dass das Amt seine Akten über Corryna G. bereits 2009 komplett gelöscht haben will. Das geschieht üblicherweise nur dann, wie eine Verfassungsschützerin dem Ausschuss erklärte, wenn jemand zu Unrecht für „extremistisch“ gehalten wurde oder seit langem nicht mehr aktiv ist. Beides trifft bei Corryna G. nicht zu.

Bis heute ist Corryna G. in der rechten Szene verankert, pflegt Kontakte in West und Ost. Als sie 2013 wieder einmal hinter Gitter musste, veröffentlichte der Neonazi und frühere Funktionär des „Thüringer Heimatschutzes“ Jörg Krautheim einen Solidaritätsaufruf im Internet.

Zum Umfeld von Corryna G. gehören heute allerdings nicht mehr nur Rechtsextreme, sondern auch Mitglieder der Hells Angels. Die Rockergruppierung wird in Hessen ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie wird mit organisierter Kriminalität und Rotlichtgeschäften in Verbindung gebracht – was zur gegenwärtigen Erwerbstätigkeit der Neonazi-Frau passt: Corryna G. arbeitet seit einigen Jahren als Prostituierte.

Kontakt zum österreichischen Verfassungsschutz

Wenn ihre Personalakte trotz alledem vernichtet wurde, liegt eine Frage nahe: Soll Corryna G. geschützt werden, weil sie als V-Frau Informationen über die Szene an die Behörden geliefert hat? Belege dafür gibt es bislang keine, aber ein Indiz: Dem erwähnten Verfassungsschutz-Dossier lässt sich entnehmen, dass Corryna G. aus der Haft heraus zweimal mit der österreichischen Sicherheitsdirektion telefonierte. Genauer: mit der Abteilung für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.

BuzzFeed News hat vergeblich versucht, Corryna G. zu erreichen, um sie mit den Recherche-Ergebnissen zu konfrontieren. Auch der hessische NSU-Ausschuss hat die hochinteressante Zeugin bisher nicht sprechen können. Im Juni war sie geladen, meldete sich jedoch krank. Für seine nächste Sitzung am 15. September hat der Ausschuss sie nun erneut als Zeugin einbestellt. Wenn Corryna G. dann nicht wieder schwänzt, muss sie vielleicht doch noch all die Fragen beantworten, die ihr die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess nicht stellen wollte.

Auch interessant

Kommentare