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Bundesweite Studie: Hunderte Menschen schildern ihre Erfahrungen mit Polizeigewalt

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Erstmals wird das Problem bundesweit systematisch untersucht. Die Teilnehmerzahl: „Deutlich mehr, als erwartet“, sagt der Studienleiter im Interview mit BuzzFeed News.

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Wie häufig werden Polizisten zu Unrecht gewalttätig? Welche Probleme haben Opfer illegaler Polizeigewalt? Wie viele Fälle werden nie angezeigt – und damit auch nie öffentlich? Das alles will der Kriminologe Tobias Singelnstein mit einer derzeit laufenden Umfrage herausfinden.

Hunderte Menschen haben in den vergangenen Wochen schon an der Umfrage teilgenommen: „Deutlich mehr, als wir erwartet haben“, sagt Singelnstein im Interview mit BuzzFeed News. Der Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum leitet das Projekt und will das sogenannte Dunkelfeld erforschen – also jenen Bereich, bei dem es zwar zu unrechtmäßiger Polizeigewalt kam (oder gekommen sein könnte), der aber nie angezeigt und untersucht wurde.

Mit dem Dunkelfeld bezeichnen Wissenschaftler jene Straftaten, die zwar geschehen sind, aber nicht angezeigt oder amtlich registriert wurden. Das Dunkelfeld beschreibt also die vermutlich begangene, aber amtlich nicht registrierte Kriminalität.

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Polizeibeamte genießen mitunter einen hohen Vertrauensvorschuss. Sie gelten als stressresistent, gut ausgebildet und im Umgang mit Gewalt als besonders geschult. Doch immer wieder kommen auch Fälle in die Medien, die so gar nicht zum Bild des zurückhaltenden, deeskalierenden Schutzmanns passen mögen, der gerade nur so viel „unmittelbaren Zwang“ anwendet, wie zur Klärung der Situation nötig.

Sind das Einzelfälle? Ereignisse, die medial hochgekocht werden? Wie groß – oder klein – ist das Problem wirklich?

Die Frage kann niemand beantworten – auch, weil die Statistik es nicht zulässt:

- Die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht, denn sie ist eine sogenannte „Ausgangsstatistik“. Sie erfasst nur jene Verdachtsfälle, die von der Polizei bearbeitet und an die Staatsanwaltschaft übergeben wurden.

- Die Staatsanwaltschaftsstatistik ebenfalls nicht, denn sie erhebt nur Angaben zu den erledigten Verfahren. Wie die Verfahren endeten – ob eingestellt, angeklagt, oder per Strafbefehl – steht dort nicht. Und Fälle, die nie angezeigt wurden, sind gar nicht erfasst.

- Und die Justizstatistik auch nicht, weil nur wenigsten Verfahren von den Staatsanwaltschaften angeklagt werden. Wenn doch, erfasst die Statistik auf der Ebene der Amtsgerichte nur pauschal 'Verfahren gegen Polizeibedienstete', nicht aber, warum das Verfahren geführt wird - und ab dem Landgericht gibt es nur noch die Gruppe 'Straftaten von Amtsträgern', in der dann Lehrer, Richter, alle möglichen Beamte und eben auch Polizisten zusammengefasst sind.

Mit anderen Worten: Ob Deutschland ein Problem mit unrechtmäßiger Polizeigewalt hat oder nicht, kann niemand so recht sagen – weil es sowohl an sauberen Statistiken als auch an hinreichenden Untersuchungen fehlt.

Mit einem großangelegten Forschungsprojekt will der Kriminologe Tobias Singelnstein das mit seinem Team nun ändern, zumindest ein bisschen – und führt dazu eine bundesweite Online-Umfrage durch. Wer glaubt, Opfer unrechtmäßiger Polizeigewalt geworden zu sein, kann seine Erfahrungen dort anonym schildern.

Für ein Zwischenfazit ist es zu früh, aber eines scheint schon jetzt klar: über mangelndes Interesse können sich die Forscher nicht beschweren.

BuzzFeed News: Herr Singelnstein. Hat Deutschland ein Problem mit illegaler Polizeigewalt?

Tobias Singelnstein: Wie groß das Problem ist, kann niemand so genau sagen. Die amtlichen Statistiken erfassen nur einen Ausschnitt. Und es gibt bislang kaum darüber hinausgehende Forschung.

Im Schnitt wird bei 20 Prozent aller Anzeigen ein Verfahren eröffnet. Bei Vorwürfen gegen Polizisten sind es zwei bis drei Prozent. Das ist ein Zehntel. Vielleicht treffen also 90 Prozent der Vorwürfe gegen Polizisten einfach nicht zu?

Das glaube ich nicht. Es gibt sicher einen Teil unberechtigter Anzeigen, weil Leute die Kompetenzen der Polizei falsch einschätzen. Nach meinem Eindruck aus der Praxis ist das aber ein eher geringer Anteil. Die meisten Leute überlegen sich in solchen Fällen sehr genau, ob sie Anzeige erstatten. Das wird nicht leichtfertig gemacht, da machen sich die Leute – oder deren Anwälte – in der Regel viele Gedanken drüber. Und viele sehen dann davon ab.

Ich glaube eher, dass das Problem in der besonderen Struktur dieser Verfahren liegt. Wir haben in der Regel eine schwierige Beweissituation, Aussage gegen Aussage. Man streitet sich ja weniger darüber, dass etwas passiert ist, sondern über die Frage, wie das nachträglich zu bewerten ist.

Oft kommt es auch zu Gegenanzeigen durch die Polizei. Und dann stehen Staatsanwälte oder Richter vor der Frage, welcher Seite sie eher Glauben schenken sollen. Und da muss man sagen: Das geht eben meistens zugunsten der Polizeibeamten aus.

Man hört oft, Beamte seien zuverlässiger als der Otto-Normal-Bürger. Weil die speziell ausgebildet seien. Weil die wüssten, wie weit sie gehen können. Weil die auch trainiert im Erinnern sind. Lässt sich das belegen?

Natürlich werden Polizisten rechtlich geschult und haben Erfahrung in der Zeugenrolle. Und bestimmt können sie rechtliche Fragen mitunter besser einschätzen, als der Bürger.

Aber: Die meisten Menschen haben auch ein ganz gesundes Rechtsempfinden. Die sind schon ganz gut darin, zu beurteilen, was noch geht und was nicht mehr in Ordnung ist.

„Man kann nicht sagen, dass Polizeibeamte per se die besseren Zeugen wären.“

Bei der Zeugenleistung gibt es sehr unterschiedliche Befunde. Das hängt davon ab, ob über die Wahrnehmung oder über die Erinnerung gesprochen wird. Da kann man jedenfalls nicht ohne weiteres sagen, dass Polizeibeamte bessere Zeugen sind. In bestimmten Kategorien sind sie tatsächlich besser.

Aber es gibt auch das Gegenteil: Bei der Erinnerungsleistung sind sie zum Beispiel mitunter schlechter, weil manche Konfliktsituationen für sie eben etwas Alltägliches sind, so dass sich das weniger einprägt und sich Erinnerungen überlagern und vermischen. Für Bürger sind diese Situationen hingegen etwas sehr Außergewöhnliches, so dass sie sich besonders stark einprägen.

Unterm Strich kann man also nicht sagen, dass Polizeibeamte per se die besseren Zeugen wären.

Immer wieder hört man ja auch von abgesprochenen Aussagen oder davon, dass auf Beweisvideos der Polizei plötzlich die entscheidenden Sekunden fehlen...

Das kommt in der Praxis vor, ja. Umso wichtiger fanden wir es, jetzt einmal zu versuchen, eine systematische Grundlage anhand der Berichte von Betroffenen zu schaffen, an der er man dann weiter diskutieren und forschen kann.

Und wie ist das Feedback bisher so?

Deutlich besser, als wir erwartet haben. Wir haben jetzt, mitten in der Befragungszeit, schon eine Größenordnung erreicht, die wir uns ursprünglich mal als Gesamtzahl gedacht hatten. Aber natürlich gilt: Je mehr mitmachen, desto besser.

Das zeigt uns, dass das Thema einen Nerv trifft. Betroffene haben oft das Gefühl, nicht richtig gehört und ungerecht behandelt zu werden - und dass das, was ihnen widerfahren ist, nirgendwo richtig aufgearbeitet wird. Man merkt, dass die ein Interesse daran haben, darüber zu berichten.

Jetzt bekommen Sie deren Antworten ja anonym – und haben keinerlei Möglichkeit, zu beurteilen, ob das stimmt, wie glaubwürdig die ist, wo da vielleicht übertrieben wurde. Wie gehen Sie damit denn um?

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Wir erheben Schilderungen und Bewertungen von Betroffenen. Das ist das Material, was wir unserer Analyse dann zugrunde legen, und noch keine exakte juristische Bewertung.

Nur: Das gilt ja für die andere Seite genau so.

Wir haben da sehr stark aufgeladene Situationen, in denen alle Beteiligten ihre Wahrnehmungen haben und einbringen. Bisher kennen wir vor allem die polizeilichen Wahrnehmungen von solchen Situationen, weil sich die im Streit um die Deutungshoheit am Ende meist durchsetzen.

Und genau das ist das Bestreben dieses Projektes: Auch einmal die Sichtweise der Betroffenen aufzunehmen und systematisch zu untersuchen.

Den Fragebogen bieten Sie nicht nur auf Deutsch an, sondern auch in englisch, französisch und arabisch. Wie ist da denn der Rücklauf?

Da haben wir bislang deutlich weniger Rücklauf bekommen, als wir uns erhofft hatten.

Es gibt bestimmte gesellschaftliche Gruppen, da vermuten wir, dass sie Gewalterfahrungen mit der Polizei seltener anzeigen. Die sind auch für die Forschung schlecht zu erreichen. Dazu gehören etwa Wohnungslose und Flüchtlinge. In diesen Bereichen sind wir daher besonders auf Unterstützung angewiesen, um die Befragung und das Projekt bekanntzumachen.

Dass es dieses Dunkelfeld gibt, ist ja nicht so neu. Wie erklären Sie sich denn, dass es erst im Jahr 2018 ein ernstzunehmendes Forschungsvorhaben gibt, das sich dem widmet?

Das ganze Feld wurde bis in die Neunziger Jahre hinein erstmal weitgehend ignoriert. Da herrschte in der Polizei, aber auch in der Politik die Haltung vor, dass es das Problem gar nicht gibt, sondern allenfalls einzelne schwarze Schafe.

Wir haben erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine größere öffentliche Debatte über das Thema. Und so setzt sich jetzt langsam auch in der Forschungsförderung und in der Polizei durch, dass das ein Thema ist, auf das man gucken muss.

Wenn es um Polizeiarbeit geht, kann man grob zwei Kulturen ausmachen: Einerseits die Null-Toleranz-Linie, bei der auch verstärkt auf Absetzung gesetzt wird. Andererseits eher offene Ansätze, zu denen man sicher so etwas wie Kennzeichnungspflicht oder unabhängige Beschwerdestellen zählen kann. In welchem politischen Klima kommt es denn eher zu unrechtmäßiger Polizeigewalt?

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Ganz eindeutig bei dem robusteren Vorgehen. Wenn bei der Polizei der Eindruck entsteht, es sei politisch gewollt, da auch mal früher und mit stärkerem Gewalteinsatz reinzugehen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Und dann kommt es auch eher mal zu einer unverhältnismäßigen Gewaltanwendung.

Ich glaube, der offene Ansatz ist der einzige, der dafür sorgen kann, dass das Problem angegangen wird. Weil er auch in der Polizei einen Kulturwandel anstoßen könnte, der hoffentlich stärker das Bewusstsein entstehen lässt, dass auch das Straftaten sind, die aufgearbeitet werden müssen.

Und welche Reaktionen haben Sie so erhalten auf Ihre Studie, aus Innenbehörden, aus der Polizei, von den Polizeigewerkschaften?

Also, die Gewerkschaften, das können Sie sich ja denken: die sind da recht ablehnend eingestellt. Aber die Rückmeldungen aus der Polizei sind sehr differenziert. Wir erleben da auch viel Interesse und viel Aufgeschlossenheit. Klar gucken viele auch mit einem kritischen Auge drauf, sind aber auch gespannt auf die Ergebnisse und bereit zur Diskussion.

Wie geht es denn jetzt weiter mit der Studie?

Der erste Projektteil läuft ja gerade. Das ist die quantitative Befragung von Betroffenen, die noch bis etwa Mitte Dezember online ist. Anschließend folgt der zweite, qualitative Teil: Da machen wir dann Interviews mit Expertinnen und Experten. Erste Ergebnisse liegen hoffentlich im Frühjahr 2019 vor. Der Abschlussbericht ist für 2020 geplant.

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Tobias Singelnstein ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr Universität Bochum.

Er forscht u.a. zu sozialer Kontrolle und Gesellschaft, Polizei und Justiz sowie zu Themen im Strafrecht und Strafprozessrecht wie Amtsdelikten, Ermittlungsmaßnahmen und im Strafverfahren.

Sein Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte: Viktimisierungsprozesse, Anzeigeverhalten, Dunkelfeldstruktur“ läuft noch bis 2020.

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