1. BuzzFeed
  2. Recherchen

Wie es sich anfühlt, stundenlang mit Neonazis durch Chemnitz zu laufen

KommentareDrucken

Unser Reporter war am 1. Mai auf der Demo der Nazi-Partei „Dritter Weg“.

Ein Tag unter Rechtsextremisten: Durch das sächsische Chemnitz marschierten am 1. Mai hunderte Anhänger des sogenannten „Dritten Weg“, einer rechtsextremistischen Kleinstpartei. Unser Reporter war mitten unter den Nazis, stundenlang.

BuzzFeed.de © BuzzFeed News

Es pfeift und buht. Unaufhörlich. Wir werden angeschrien, pure Verachtung schlägt uns entgegen. Ich laufe, abgeschottet von Beamten, durch eine enge Gasse von Absperrgittern. Dahinter stehen die Gegendemonstranten und schreien. Sie schreien mich an. Es fühlt sich an wie Spießrutenlauf. Ich denke: hoffentlich erkennt mich niemand – denn ich schäme mich.

Fünf Stunden vorher, es ist der 1. Mai um 7.20 Uhr. Ich steige in Leipzig in einen Zug. „Na da wern'se heut Ihre Freude ham. Das saach ich Ihnen. Wie die schon alle ausseh'n. Chaoten.“ Die rüstige ältere Frau neben mir ist hellwach und sieht keinen Grund darin, zurückzuhalten, was sie von den Leuten hält, die hier mit im Zug sitzen.

Es sind Gegendemonstranten. Hunderte. Wir sind auf dem Weg zu einer Demo, organisiert vom „Dritten Weg“, am „Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse“. Der „Dritte Weg“, das sind nicht irgendwelche besorgten Bürger. Das sind amtliche Neonazis. Faschisten. Rassisten. Extremisten. Das sagt der Verfassungsschutz. 1.500 Teilnehmer sollen es heute werden.

Gegen zehn kommt es für mich zum ersten Kontakt mit dem „Dritten Weg“. Ich stehe im Hauptbahnhof von Chemnitz. Im Burger King kostet die Toilette einen Euro. Eine Gruppe sportlicher junger Männer im „Dritter Weg“-T-Shirt geht zu sechst rein und bezahlt gemeinsam einen Euro. Das kann nun Antikapitalismus sein oder Antiamerikanismus oder Geiz, aber: anständig ist es irgendwie nicht, und Anstand spielt hier eine große Rolle, wie sich später noch zeigen wird. Am Waschbecken versuche ich es mit einem unaufgeregten „Morgen“, aber so richtig auf Gegenliebe trifft das nicht. Der letzte der sechs setzt seine Sonnenbrille auf und geht.

„Wann strahlst du?“

Eine Stunde später auf dem Versammlungsplatz: Von 1.500 Menschen ist das hier weit entfernt. 650 Teilnehmer wird die Versammlungsbehörde später melden. Zwei davon, beide Rentner, stehen jetzt neben mir. Sie reden auf mich ein, als ob wir uns schon Jahre kennen würden. Gemeinsam blicken wir auf die deutlich größere Zahl der Gegendemonstranten. Warum die denn hier her kämen, nur zum Gucken, was das solle, es gäbe ja nix zu sehen, redet sich der offenbar Ältere der beiden in Rage.

Etwas später erkennt der andere auf der anderen Seite einen gemeinsamen Bekannten. „Müller“ ruft er. „Müller... Hey, Müller!!“. Aber Müller reagiert nicht. Beim vierten, diesmal sehr viel längeren „Müüüüüüller !“ dreht sich auf der anderen Seite ein Herr mit weißem Haar um und geht. „Will nich'“, sagt der Ältere. Von der Bühne der Gegenveranstaltung schallt es „Let's come together. Come on, come on. Let's come together.“ Aber mit Müller kommen sie hier heute nicht mehr zusammen.

Mit ihrem Zeitplan auch nicht. Seit 40 Minuten tut sich nichts. Der „Dritte Weg“ beginnt seinen Weg durch Chemnitz mit Rumstehen. Die mitgebrachte Lautsprecheranlage taugt nichts, die Reden auf der Gegenveranstaltung sind lauter. „Wir müssen besonders wachsam sein, wenn die Nazis soziale Themen ansprechen“, schallt es von dort herüber. Ein hagerer Typ mit Ziegenbart meckert vor sich hin: „Ihr hattet zwölf Jahre Zeit. Nu braucht'er nimmer wachsam sein. Nu simmer hier.“

Teilnehmer der Dritter-Weg-Demo schauen auf die Gegendemonstranten hinter der Absperrung. © BuzzFeed News

Die Anlage am Lautsprecherwagen des „Dritten Weges“ knackt jetzt und geht ganz aus. Von der zweiten Bühne schallt ein Lied herüber: „Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen. Wann strahlst du?“

Aus der Ferne sieht das hier aus wie eine Gewerkschaftsdemo. Alle haben rote T-Shirts an, die im Online-Shop der Partei T-Hemden heißen. „Tradition“ steht drauf, „Familie“, „Heimat“ oder „Kämpft!“. Hoch im Kurs stehen auch Hosen mit aufgesetzten Taschen. Und Funktionsjacken – zumindest sobald die Vierzig überschritten ist, was beim ganz überwiegenden Anteil hier der Fall ist.

11:56 Uhr. Immer noch keine Demo, aber gute Stimmung. Ein älterer Herr ist mit einem knallgrünen Klapprad gekommen und hat sofort Bekannte getroffen. Schon nach einer Minute ist der Puls oben: „Das geht ja mit'n Kopptuch weiter! Keen Beruf! Alles dreck'sch! Immer schwanger! Das Gelumpe... Mir sin' ja aa mal Ausländer irschendewo. Wenn mor zu de Tschechen fahrn, Kippen koofn, zum Beispiel. Aber dann bleimwer doch net dort! Da kommwer doch nach eem Tag wieder und benehm' uns und alles. Nich' wie das Gesindel!" Beide nicken.

Kurz nach Zwölf. Angeblich sind nochmal 150 Leute am Bahnhof eingetroffen. Auf die wird nun gewartet. Lautes Gejohle. Wenig später kann man die dazu gekommenen Menschen an zwei Händen abzählen.

„...dahinter sammelt sich das Volk“

Halb eins. Endlich geht's los. Ganz vorne sollen die mit den Trommeln laufen, dann die roten T-Shirts, dann Fahnenträger – „und dahinter sammelt sich das Volk!“, so hat es der stellvertretende Parteichef vorhin durchgesagt. Ich fühle mich irgendwie wie ein Demonstrant zweiter Klasse. Aber die Herren neben mir scheinen mit Befehl und Gehorsam weniger ein Problem zu haben.

Ein Ordner zählt die Reihen ab. Ganz akkurat soll das alles sein und es gibt ein großes Gemecker, als in einer Reihe ein Plakat zu wenig gezählt wird. Man will durch Zurückhaltung und Ordnung Eindruck machen. Keiner soll sich provozieren lassen. Alles soll gesittet abgehen, diszipliniert. Darauf haben die Veranstalter immer wieder hingewiesen.

Um 12:45 Uhr laufe auch ich dann, ziemlich am Ende des Zuges. Hinter der Absperrung pfeift und buht es. Unaufhörlich. Wir werden angeschrien, pure Verachtung schlägt uns entgegen. Ich kann mir schwer vorstellen, wie das in irgendjemandem so etwas wie Stolz auslösen soll. Man läuft, abgeschottet von Beamten, durch eine enge Gasse und hinter den Absperrgittern stehen die Gegendemonstranten und schreien dich an. Sie sind mehr. Sie sind lauter. Sie haben oft auch die besseren Sprüche.

Es fühlt sich an wie Spießrutenlauf. Ich spüre in mir den Impuls, mich zu distanzieren; irgendwie zu zeigen: Ich laufe hier zwar auch, aber ich gehöre gar nicht zu denen. Die älteren Herrschaften machen Witze, es wirkt wie überspielte Unsicherheit. Ich jedenfalls finde das hier gerade extrem unangenehm, und peinlich. Und ich schäme mich.

Optik ist wichtiger als Inhalte

Wir sind drei Minuten gelaufen, da steht der Zug schon wieder. Hinter mir zündet sich eine Teilnehmerin eine Zigarette an – oder besser, sie versucht es. Die Frau kommt genau zu einem Zug an ihrer Zigarette. Dann ist ein junger Kerl mit Trainingsjacke und einer weißen „Ordner“-Armbinde da und verlangt, dass die Zigarette wegkommt. Er weiß noch nicht, dass er schon bald aufgeben wird. Noch ist er voller Elan.

„Jetzt probiert's doch nochmal mit der Vierer-Reihe. Kommt schon, Jungs. Dit is nich' schwer.“ Dass wir immer zu viert nebeneinander laufen, ist seine erste Baustelle. Der Abstand zwischen den Reihen die zweite. Und dass um Gottes Willen niemand raucht ist Baustelle Nummer drei. Eine halbe Stunde lang gibt er sein Bestes. Er kreist wie ein Border Collie um seine Herde. Aber irgendwann gibt er es einfach auf. Eine Baustelle könnte er stemmen, vielleicht auch zwei. Aber alle drei? Das ist zu viel. Hier, am Mittag des Ersten Mai 2018, als der „Dritte Weg“ durch Chemnitz marschiert.

Zur Zwischenkundgebung auf dem Sonnenberg erklärt er der Frau hinter mir, in der Partei hätten sie alle aufgehört. „Na könnt ihr doch“, bekommt er als Antwort. „Wenn wir euch sehen, sehen euch auch die Pressefotografen“, sagt der Ordner. Doch die Frau hört schon nicht mehr zu. Später auf der Demo sieht das dann so aus: sobald irgendwo gestoppt wird, scheren die Raucher aus. Auf den Gehweg. In Hofeinfahrten. In Seitenstraßen. Wie Schüler auf dem Schulhof, die heimlich in einer Ecke rauchen.

Geordnet und diszipliniert soll es aussehen. Und Raucher in losen Grüppchen sind das Gegenteil davon. Es geht hier um Bilder. Um Inszenierung. Um Optik. Optik ist wichtiger als Inhalte. Inhalte erreichen ja doch nur diejenigen, die hier gerade aus dem Fenster gucken – oder Gegendemonstranten, die ohnehin nicht zu überzeugen sind. Aber die Bilder, die bleiben im Netz, die kommen in die Zeitung, die sehen im besten Fall Tausende, noch Jahre später.

Das Volk antwortet nicht

In einem Haus, an dem die Fassade bröckelt, steht ein älterer Herr im Bademantel am offenen Fenster. Er reckt die rechte Faust zum Himmel, wischt sich mit der anderen Faust Tränen ab und ruft irgendwas mit Deutschland. Doch die sportlichen jungen Männer neben mir, alle in Jeans mit komischen Nähten, Turnschuhen, Sportjacken und Sport-Sonnenbrillen, die bekommen davon nichts mit. Ob man hier auch „freie Leute“ habe, fragt der ohne Sporttasche. „Ja, klar. CFC und so“, antwortet der mit Sporttasche und meint damit den Fußballverein Chemnitzer FC. „Oder hier vorne die vier, die sind Freefighter. Und gestern Nacht sind hier auch schon Leute rumgelaufen.“

Vor mir zeigt ein Mann seiner Frau Fotos auf dem Handy. Mit seinen kurzen Locken, dem gelockten Bart und der Fleecejacke mit „Erzgebirge“-Stickerei sieht er eigentlich gar nicht wie ein Rechtsextremist aus, aber man kann halt nicht reinschauen in die Leute. Seine Frau hat deutliches Übergewicht, Tattoo am Hals und die Haare violett und rosa gefärbt. Die Fotos hat er über WhatsApp geschickt bekommen. Er zoomt heran, auf dem Display sind die gleichen Farben zu sehen, wie auf dem Kopf seiner Frau. Es sind Fotos von dieser Demo, erst wenige Minuten alt. Irgendwo online. Er schmunzelt. Sie zieht genervt die gepiercte Augenbraue hoch. Die Sorge vor Bildern, die nicht ins Bild passen, verbindet hier scheinbar alle.

Inzwischen sind die Häuserzeilen enger. Die Parolen schallen durch die Straßen, vom Echo verstärkt. „Eeeeerster Mai. Seit 33 arbeitsfrei“, ruft der Zug. Doch bei weitem nicht alle rufen mit. Hier hinten im Zug halten mehr Leute den Mund. Die Ordner des „Dritten Wegs“ beschweren sich über die schlechte Stimmung. Der Funke springt nicht über.

„Wolln'mer zu mir? Kaffeepause? Ich wohn ja gleich hier“, fragt die Frau in die Runde, die vorhin noch zur Nichtraucherin gemacht werden sollte. Da könne man ja immerhin rauchen und Bier sei auch da. Kurz überlegt man. Doch dann geht es weiter, mit dem Zug und den Parolen.

Aus dem Megafon ruft es: „Das Systeeeeeem ist am Ende“.

Die Ordner vom „Dritten Weg“ antworten: „Wir sind die Wende“.

Die Vorbeter am Megafon ziehen die Worte am Anfang eigenartig in die Länge. Die Parolen werden aus Megafonen vorgegeben, das Volk soll antworten. Doch das Volk antwortet nicht.

Megafon: „Doiiiiiitscher Sozialismus“

Ein bisschen Volk, eher die Jungen: „Jetzt! Jetzt! Jetzt!“.

Megafon: „Cheeeeeeemnitz!“

Ein bisschen Volk, diesmal die eher Älteren: „Erwache!“

„Deutschland erwache!“ war die Losung der SA.

Ausgebuht zu werden fühlt sich nicht gut an

Diese Frage-Antwort-Formeln haben etwas von Gottesdienst. Sie brennen sich ein. Nach einer Weile denkt man nicht mehr, man spricht einfach mit. „Jetzt! Jetzt! Jetzt!“ – ein, zwei Mal rutscht es auch mir fast raus. Immer wieder wird die gesamte Demo akribisch fotografiert. Linke Aktivisten sammeln seit Jahren die Gesichter der Teilnehmer und führen Buch, welcher Rechtsextremist wo auftaucht. Ich weiß, ich bin heute mit drauf. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber klatschen, Parolen rufen oder mit einem der Leute hier Witze machen – das auf einem Foto wäre fatal. Auch mich treibt die Sorge um die Bilder.

Plötzlich, 15:10 Uhr, die Demo ist fast durch, wird es nochmal aufregend. An der Rembrandtstraße stehen sehr viele, sehr laute Gegendemonstranten. Manche vermummt. Manche auf Garagen. Manche rennen über Wiesen. Polizeipferde. „Hier hammwer keene Fluchtmöglichkeiten“, sagt einer der alten Herren neben mir. Stimmt. Gleich geht es über eine Brücke. Auch danach ist die komplette Straße voll mit lautem Gegenprotest, weniger als zwei Meter neben uns. Keine geschlossene Polizeikette. Wenn die wöllten, dann gäb's jetzt richtig Stress, denke ich – und überlege kurz, wo im Rucksack mein Helm liegt.

Da fällt mir auf: Wir laufen schneller. Wo der Protest lauter, intensiver, näher ist, da geht die Demo nicht nur zügiger, sie geht auch ungeordneter. Vierer-Reihen (die hier mehrfach schmunzelnd 'Führer-Reihen' genannt werden) sind jetzt Theorie. Die älteren Herren neben mir machen weiter ihre Sprüche. Bei einem arabischstämmig aussehenden jungen Mann am Balkon: „Guck hier, noch so ein Mitbürger“; bei lauten Gegendemonstranten: „gar keinen gesunden Nationalstolz mehr“; am türkischen Kulturverein: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Dennoch: so massiv ausgebuht zu werden fühlt sich nicht gut an. Und unnötig viel Zeit will hier offenbar niemand verbringen.

Ich überlege seit Minuten, wie ich mich abseilen soll. Es ist kurz vor Ende der Demo. Dass ich niemanden hier kenne und mit niemandem rede, dass ich nicht klatsche und die Parolen nicht mitrufe – offenbar fiel das irgendwann auf. Ich werde misstrauisch beäugt, man flüstert neben mir. Ich würde also ganz gern im Zug zu sitzen, bevor die versammelte Kundgebung zum Bahnhof geleitet wird und ich mit genau diesen Leuten über eine Stunde im Abteil sitze. Als plötzlich ein Polizeitrupp vorbeirennt, nutze ich die Gelegenheit, mache den Polizisten etwas zu viel Platz – und stehe danach nicht mehr in, sondern außerhalb der Demo.

Am Bahnsteig stehen schon kleine Gruppen Rechter. Kaum Polizei. Gegendemonstranten und Leute, die dafür gehalten werden, dürfen nicht in den Bahnhof. Die Polizei lässt nur den „Dritten Weg“ durch, der soll zuerst abreisen. Im Bahnhof patrouilliert ein privater Sicherheitsdienst. Die gleichen Hosen, die gleichen Sonnenbrillen, die gleichen Stiernacken und kurz geschorenen Haare. „Security“ steht in Frakturschrift auf der Funktionsjacke. Ein Sicherheitsgefühl stellt sich bei mir nicht ein, im Gegenteil.

Neben mir schaut einer im Dritten-Weg-Shirt die Fotos der Demo auf seinem Handy durch. Er zoomt ins Bild. Es sind die Trommler aus der ersten Reihe des Demozuges. Die Trommeln haben das gleiche Design wie die Trommeln der Hitlerjugend.

BuzzFeed.de © BuzzFeed News
BuzzFeed.de © BuzzFeed News
BuzzFeed.de © BuzzFeed News
BuzzFeed.de © BuzzFeed News

Auch interessant

Kommentare