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10 bedeutsame Momente, die ich erlebt habe, seitdem mein Krebs in Remission gegangen ist

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Die vergangenen zehn Jahre habe ich den Jahrestag meiner Remission gefeiert, indem ich innegehalten und über mein Leben nachgedacht habe: was sich verändert hat, was gleich ist, was schlechter ist, was besser ist.

BuzzFeed.de © Thoka Maer for BuzzFeed News

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Es ist der 17. Dezember 2009 und ich bin 20 Jahre alt. Ich sitze auf der papierbedeckten Untersuchungsliege im Sprechzimmer meines Onkologen. Meine Mutter sitzt mir gegenüber auf einem hässlichen Stuhl mit Textilbezug neben dem Schreibtisch des Arztes und macht sich Notizen. Sie ist diejenige, die mich von unserem Zuhause in New Jersey zum Memorial Sloan Kettering Cancer Center an der Upper East Side gefahren hat, wie schon die letzten neun Monate, als diese ganze Tortur begonnen hat. Ich bin hier, um die Ergebnisse eines PET-Scans zu erfahren und um zu sehen, ob die 12 Chemotherapie-Behandlungen gewirkt haben. Bei den vorigen Scans hat sich gezeigt, dass die Medikamente geholfen haben, den Tumor zu schrumpfen – aber ich bin trotzdem nervös. Jeder kleine Fleck auf dem Scan kann mein Leben wieder zum Einsturz bringen und ich habe gelernt, keine guten Neuigkeiten mehr zu erwarten. Der Türknauf dreht sich und mein Arzt kommt ins Zimmer. „Du bist durch“, sagt er, noch bevor sich die Tür hinter ihm schließt, um mir die Todesqualen zu ersparen. Es fühlt sich an, als würde jemand das größte Heftpflaster der Welt abreißen. „Du bist in Remission", sagt er. Das weiß ich bereits. Aber ich kneife mir in den Oberschenkel, um mit dem Weinen aufzuhören.

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Ich bin 21 Jahre alt und umarme meine Familie an der Sicherheitsschleuse des Flughafen Newark. Ich gehe fort, um vier Monate lang in London zu studieren, wo ich niemanden kenne, außer dem einen Freund, der mich überredet hat, mich einzuschreiben. Ich bin seit ich acht Jahre alt war war nicht mehr mit dem Flugzeug geflogen. Ich habe noch nie das Land verlassen. Ich habe vor beidem fürchterliche Angst. Auf einmal ist da diese kalte, unstete Ruhe, die nach längeren Angstperioden eintritt, als ich um die Ecke biege und zusehe, wie meine Familie verschwindet. Ich kenne die Leute nicht, mit denen ich in London zusammenleben werde. Ich weiß nicht, was für einen Job ich haben werde. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich vom Flughafen zum Wohnheim komme. Aber ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe, als das jetzt durchzuziehen. Es gibt Dinge, die mir Angst machen und die tatsächlich schlimm sind und es gibt Dinge, die mir Angst machen, die eigentlich gut sind. Ich zwinge mich selbst dazu zu lernen, beides voneinander unterscheiden zu können.

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Ich fahre im Toyota Camry meines Freundes auf einem Highway in Nord Washington Richtung Süden. Mein Freund sitzt auf dem Beifahrersitz und unser Kumpel Jordan spielt auf dem Rücksitz Ukulele. Ich habe sie beide dazu überredet, einen Roadtrip quer durchs Land und wieder zurück zu machen, um der Tatsache aus dem Weg zu gehen, dass ich seit meinem Abschluss vor sechs Monaten noch keinen Job gefunden habe. Mein Kontostand sinkt immer weiter und ich habe keine Ahnung, was für eine Arbeit ich in „der echten Welt" machen soll. Ich fühle mich wie ein Zootier, das freigelassen wurde, instinktlos und panisch. Große grüne Pinien ziehen am Fenster vorbei, als der Wald zu unserer Rechten plötzlich aufhört. Der Pazifik. Ich fahre rechts ran, damit wir das Wasser zum ersten Mal in unserem Leben berühren können und im Radio – das werde ich nie vergessen – läuft „Gangnam Style“. Mir fällt auf, wie sehr mich der Pazifik an den Atlantik erinnert und ich frage mich, wieso wir ihnen verschiedene Namen geben, obwohl beide doch irgendwie das gleiche Gewässer sind.

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Manhattan erstrahlt vor mir und der East River tost dort unten. Ich radle über die Queensboro Bridge zu meinem Job – einem echten Job mit Visitenkarten, auf denen „Autorin“ steht. Klar weiß ich, dass Radfahren gefährlicher ist als die U-Bahn, aber beim Radfahren fühle ich mich frei und in der U-Bahn habe ich das Gefühl, in einem Sarg zu fahren. Der Verkehr zu meiner Linken und die kühle, frische Luft um mich herum beleben mich. Rechts von mir hängt wie ein schwebendes Raumschiff eine Gondel über dem Fluss. Das letzte Mal habe ich diese Luftseilbahn von der Dachterrasse im Sloan Kettering aus gesehen. Ein Mitpatient, der wie ich darauf wartete, aufgerufen zu werden, hatte in die Ferne gedeutet und gefragt: „Was ist das?“. Meine Mutter, deren Nerven das vergangene Jahr lang meinetwegen blank gelegen hatten, antwortete schroff: „Zeig in New York nie Richtung Himmel und frage, ‚Was ist das?‘. Das ist die Luftseilbahn der 59th Street.“ Seit diesem Tag hatte ich nicht mehr an die Straßenbahn gedacht.

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Ich erlebe die Art von Angst, die meinen ganzen Körper ergreift und sich in meinem Bauch festsetzt. Ich gehe in Deckung, als Tanten, Kollegen und Freund*innen aus dem Studium meinen Arm ergreifen, um mir zu gratulieren. Ich lächle und danke ihnen, aber renne doch weg. Ich habe mein Leben lang davon geträumt, ein Buch zu schreiben, aber dafür zu werben ist ein absoluter Albtraum. Ich hasse es, vor Menschen zu sprechen. Mir ist übel und ich schwitze mein T-Shirt durch. Mein Agent taucht vor mir auf, um mir zu sagen, dass wir gleich mit dem Programm anfangen. Dies ist der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe, seit ich vor mehr als zwei Jahren den Buchvertrag unterschrieben hatte und jetzt bin ich mittendrin. Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion meines Körpers drängt mich zum Fliehen, aber ich finde meinen Platz auf der Bühne und setze mich fest auf meinen Stuhl. Ich versuche, nicht auf die Menge zu sehen und hoffe, dass ich durch diesen Trick so tun kann, als unterhalte ich mich einfach mit dem Interviewer neben mir; als wäre der Raum nicht voller Menschen, die uns zuhören. Schließlich finde ich den Mut, aufzublicken und entdecke hinten zwei Freunde, die zusammen 4000 Meilen zurückgelegt haben, um hier zu sein, der eine aus Boston, der andere aus London. Beide grinsen breit, was mich nicht weniger nervös macht, aber mich mit den Tränen kämpfen lässt, weil ich wirklich stolz auf mich bin.

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Ich sitze auf einem Surfboard und dümple in den Wellen am Rockaway Beach, mitten in einer sechsmonatigen unbezahlten Auszeit von der Arbeit, die ich mir genommen habe, um Zeit für mich selbst zu haben. Ich verspüre das Bedürfnis, mein Leben zu ändern, selbst wenn es bedeutet, den Job aufzugeben, den ich liebe und die Stadt zu verlassen, die meine Heimat ist. Also bin ich zu den Rockaways gefahren, um darüber nachzudenken. Ich habe gerade erst angefangen zu surfen, weshalb ich mich entschieden habe, an einem Tag mit relativ kleinen Wellen zu kommen. Aber ein paar Minuten, nachdem ich ins Wasser gegangen bin, paddelt ein Teenager mit seiner jüngeren Schwester hinaus. Ihre Anwesenheit nervt mich sofort. Als Anfänger mache ich mir ständig Sorgen, dass ich irgendeine unausgesprochene Regel breche, daher sitze ich mehr auf dem Brett, als dass ich surfe, wenn andere in der Nähe sind. Schließlich ringe ich mich dazu durch, eine Welle anzusteuern. Ich verpasse sie und paddle in stiller Scham zurück. „Du hättest sie fast gekriegt“, sagt der Teenager. „Du musst nur ein bisschen stärker paddeln.“ Ich erfahre, dass er Warren heißt und ursprünglich aus Queens kommt. Er leitet mich zur nächsten Welle und ich schaffe es, hineinzupaddeln. Als ich zu Warren zurückkomme, ist er genauso aufgeregt wie ich. Ich schätze nicht, dass sich unsere Pfade im Alltag wieder kreuzen werden, aber das Meer lässt diese Art von Magie zu. „Schau“, sagt Warren und deutet hinter mich. Ich drehe mich um. Ein Schwarm Delfine schwimmt nur ein paar Fuß weit entfernt.

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Meine ganze Familie drängt sich um ein Krankenhausbett, doch dieses Mal liege nicht ich darin. Es ist meine Schwester. In ihrem Schoß liegt ein rotes, sich windendes, lebendiges Knäuel, das noch keinen Namen hat. Gestern war dieses winzige Ding noch in ihr drin, im Grunde fast dort, wo es jetzt liegt – doch die Reise, die dieses Wesen unternommen hat, um von dort hierher zu gelangen, ist in meiner Vorstellung unmöglich. Er ist so frisch, dass er aussieht wie eine Wunde, ganz glänzend und rot. Plötzlich ist meine Schwester Mutter und dieser Mensch gehört zu meiner Familie – das erste neue Mitglied seit mehr als 23 Jahren. Und dann ist es Zeit zu gehen. Und das Merkwürdigste daran ist, dass wir ohne sie gehen. Sie – meine Schwester, ihr Mann und das Knäuel – sind jetzt eine Familie, die aus unserer entstanden. Draußen gewöhnen sich unsere Augen nach dem fluoreszierenden Oberdeckenlicht an die helle Herbstsonne und mir wird klar, wie schwer es ist, ein Krankenhaus zu verlassen, ohne das Gefühl zu haben, dass alles anders ist als beim Reingehen.

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Wir stehen in einem kleinen lila Zimmer im Standesamt von New York City. Ich trage ein weißes Kleid und mein Freund steht mir in einem Anzug gegenüber, den er letzte Woche gekauft hat. Wir sind seit der Highschool ein Paar, das heißt, wir waren zusammen, als ich die Diagnose bekommen habe, als ich im Ausland gelebt habe, als ich diese Person geworden bin. In unseren 13 Jahren zusammen waren eine Menge Leute an unserer Beziehung beteiligt – also haben wir uns paradoxerweise dazu entschlossen, eine Hochzeit mit 20 Personen zu feiern. Seit der Krebserkrankung habe ich mich gefühlt wie ein bodenloser Brunnen der Emotionen. So ziemlich alles kann mich zum Weinen bringen. Ein Teil von mir hofft, dass die Zeremonie mit weniger Leuten weniger intensiv ist. Der Beamte fragt uns, ob wir versprechen, einander zu lieben, zu ehren und zu schätzen solange wir beide leben und das tun wir. Er fragt nicht, ob wir in Krankheit und Gesundheit zusammenbleiben werden, aber ich kenne die Antwort darauf bereits. Ich reiße mich zusammen, bis er uns zu Mann und Frau erklärt – dann fühle ich, wie sich mein Mund verzieht und ich weine, begrabe mein Gesicht im Kragen des neuen Anzugs meines neuen Ehemannes. Ich bin so froh, dass so wenig Leute diesen peinlichen Moment mitbekommen, aber vor allem bin ich froh, dass ich da bin und ihn erlebe.

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Ich liege auf dem Rücken unter einem zweieinhalb Tonnen schweren Van in der Garage eines Rentners irgendwo in einem Vorort von Delaware. Ich bin 29 Jahre alt und kaufe mein erstes Auto: ein 1985 Volkswagen Vanagon. Der Van ist vier Jahre älter als ich, das heißt, als ich geboren wurde, war er bereits auf der Straße, hat einer anderen Familie gehört und sich langsam auf den Weg zu mir gemacht. Der Besitzer lässt mich bei der Reparatur eines Getriebelecks helfen, damit der Van straßentauglich ist, wenn mein Mann und ich damit von New York nach Kalifornien ziehen. Wir haben keine Ahnung, wie lange wir auf unserem weitschweifigen Umzug nach Westen im Van leben werden. Einen Monat? Sechs Monate? Ein Jahr? Wir beide geben unsere Jobs in New York auf und wir haben noch keine Stelle in Kalifornien. Wir haben es also nicht wirklich eilig, irgendwo hinzukommen. Der Mann hat Geduld mit mir. Er lässt mich Schrauben entfernen und Teile austauschen. Er sagt, ich werde diese Dinge können müssen, weil der Van auf unserer Fahrt definitiv eine Panne haben wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, sagt er. Das sollte mich fertigmachen, aber das tut es nicht. Es ist genau die Art Chaos, nach der ich im Moment suche.

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Es ist der 17. Dezember 2019 und ich bin 30 Jahre alt. Die vergangenen zehn Jahre habe ich den Jahrestag meiner Remission gefeiert, indem ich innegehalten und über Leben nachgedacht habe: was sich verändert hat, was gleich ist, was schlechter ist, was besser ist. Es ist für gewöhnlich ein Tag, auf den ich mich freue, daher bin ich wütend, dass ich mit meinem Mann wegen Geld streite. Es ist kein echter Streit – wir sind nur beide gestresst wegen des krassen Wechsels vom Leben in einem Van zum Leben in einer Wohnung ohne die Jobs, um sie zu bezahlen – aber ich ärgere mich trotzdem, dass es an einem Tag passiert, der mir so viel bedeutet. Dann, wie ein Geschenk des Himmels, schickt mir ein guter Freund über Venmo ein paar Dollar zu Ehren des Jahrestages, was meinem Mann und mir ein schönes Abendessen ermöglicht, ohne dass wir uns Sorgen wegen der Finanzen machen müssen. Ich hätte nicht erwartet, dass mein Leben zehn Jahre später so aussehen würde: pleite, gestresst und auf die Hilfe meiner Freunde angewiesen. Aber als wir zum Restaurant gehen, wird mir klar, dass egal wie hart mir das Leben gerade vorkommt, ich niemals auch nur annähernd so verängstigt oder traurig oder wütend war wie auf jener papierbedeckten Liege vor zehn Jahren. Und das ist mehr als genug. ●

Erin Chack ist die Autorin von This Is Really Happening. Sie lebt in Los Angeles.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

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