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Wir vergiften uns seit 2000 Jahren mit Blei, zeigt das Eis aus einem Schweizer Gletscher

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Seitdem Menschen Blei abbauen, vergiften sie sich damit. Das zeigt eine neue Studie. Nur als die Pest im 14. Jahrhundert halb Europa tötete – und deshalb niemand Blei abbauen konnte – sank der Bleigehalt in der Luft auf einen natürlichen Wert.

Einem Kind in Flint im US-Bundesstaat Michigan wird Blut entnommen, um seine Bleiwerte zu testen. Das Trinkwasser der Stadt ist seit 2014 durch einen hohen Bleianteil kontaminiert.
Einem Kind in Flint im US-Bundesstaat Michigan wird Blut entnommen, um seine Bleiwerte zu testen. Das Trinkwasser der Stadt ist seit 2014 durch einen hohen Bleianteil kontaminiert. © Carlos Osorio / AP

Seit mindestens zwei Jahrtausenden werden Menschen durch in der Luft enthaltenes Blei vergiftet. Das geht aus einer neuen Studie hervor, für die ein Eiskern aus einem Gletscher in den Schweizer Alpen analysiert wurde.

Nur der Schwarze Tod, die verheerendste Pestepidemie der Menschheitsgeschichte, ließ im 14. Jahrhundert den Bleigehalt der Atmosphäre kurzzeitig auf das natürliche, nicht nachweisbare Maß sinken. Der Eiskern dokumentiert auch, dass der Bleigehalt in der Atmosphäre im 20. Jahrhundert sprunghaft anstieg. Der Höhepunkt war im Jahr 1975 erreicht, danach musste aufgrund von Umweltgesetzen das Blei aus dem Benzin entfernt werden.

„Es gibt in der Realität keinen Bleispiegel im Blut, der unbedenklich wäre”, sagt Alexander More, Autor der Studie und Mitglied der „Initiative for the Science of the Human Past” an der Universität Harvard, im Gespräch mit BuzzFeed News. „Diese Studie zeigt, dass wir praktisch nie in einer Art vorindustrieller Idylle ohne Bleiverschmutzung gelebt haben.”

Dieser historische Befund ist deshalb so bedeutend, weil die Gesundheitsbehörden den als „unbedenklich” geltenden Bleispiegel im Blut in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich nach unten korrigiert haben. Das sagt der Epidemiologe Philip Landrigan vom Mount Sinai Hospital gegenüber BuzzFeed News. Landrigan war nicht an der Studie beteiligt.

Verbesserte Tests, so Landrigan, hätten gezeigt, dass Blei negative Auswirkungen auf den IQ und die Gesundheit hat. Das gelte auch für Mengen, die bisher als unbedenklich eingestuft wurden. Zwischenfälle wie der in Flint im US-Bundesstaat Michigan, wo es zu einer Bleiverseuchung des Wassers gekommen war, haben außerdem den Druck erhöht, die Auswirkungen von Blei zu untersuchen, wenn viele Menschen unwissentlich betroffen sind.

Landrigans Argumentation: Weil die Befunde darauf hindeuten, dass der natürliche Bleigehalt der Atmosphäre bei Null liegt, müssten die erlaubten Werte weiter gesenkt werden. Die für Prävention zuständige US-Behörde CDC hatte den Wert 2012 auf 5 Mikrogramm pro Deziliter im Blut von Kindern halbiert. Da es keine natürliche Bleibelastung gibt und der Mensch offenbar für das Blei in der Luft verantwortlich ist, sollten wir – so Landrigan – die Bleiwerte so weit wie möglich in Richtung null senken.

„Ich denke, es ist eine ausgezeichnete Studie, denn sie zeigt die Bleiwerte über Jahrhunderte hinweg fast im täglichen Maßstab”, sagt Landrigan.

Eine alte Darstellung der Pest, des sogenannten Schwarzen Todes.
Eine alte Darstellung der Pest, des sogenannten Schwarzen Todes. © The National Library of Medicine

Seit 6.500 Jahren schürfen und verhütten Menschen Blei. Um mehr über die Entwicklung des Bleigehalts in der Atmosphäre während dieser Zeit zu erfahren, bohrten Glaziologen etwa 72 Meter tief in einen Gletscher an der italienisch-schweizerischen Grenze. Sie entnahmen einen Eiskern, der in komprimierter Form den Schneefall und die Bleiablagerungen auf dem Gletscher während der vergangenen 2000 Jahre dokumentiert.

Später im Labor wurden mithilfe eines Lasers mikroskopisch kleine Schichten von einer Probe des Eiskerns gebrannt. Jede einzelne Schicht wurde chemisch analysiert. Dabei wurden teilweise bis zu 300 Bleimessungen für ein Lebensjahr des Gletschers vorgenommen, der an seiner Basis, dem ältesten Eissegment, über 2000 Jahre alt ist und auf etwa 1 v. Chr. datiert wird.

„Das ist eine erstaunliche Leistung”, sagt Steven Gilbert, Toxikologe am Institut für Neurotoxologie und neurologische Erkrankungen in Seattle, im Gespräch mit BuzzFeed News. „Ein enormer Fortschritt und eine große Menge an Daten.”

Zwar deuteten schon frühere Studien an peruanischen Mumien darauf hin, dass es keinen natürlichen Bleigehalt in der Luft gibt. Im Jahr 1979 fand man Blutbleiwerte von vor 1600 Jahren, die 700-mal geringer waren als die heutigen. Ein Eiskern aber, so Gilbert, liefert viel bessere Daten zur Geschichte der Erdatmosphäre.

Am meisten überraschte die Wissenschaftler jedoch die Entdeckung, dass die Bleiwerte während der Jahre 1349 bis 1353 auf ein nicht mehr nachweisbares Maß schrumpften. Die Historiker im Team wussten, dass zu jener Zeit die als „Schwarzer Tod” bekannte Pestepidemie ihren Höhepunkt erreicht und 30 bis 50 Prozent der europäischen Bevölkerung dahingerafft hatte.

„Wir haben den Rückgang gesehen und gesagt: ‚Schaut mal, wieso sinken die Werte denn so stark?‘ Danach haben wir das Datum ermittelt.” More sagt: „Nun, das war die größte Pandemie, die Eurasien jemals heimgesucht hat.”

Der Abbau von Blei und praktisch allen anderen Rohstoffen kam zum Erliegen, als die Pest in Italien, Deutschland und England ihren Höhepunkt erreichte. Diese Länder waren bis dahin industrielle Zentren gewesen. Angesichts des gesellschaftlichen Zusammenbruchs bestand kein Bedarf mehr an Blei für Siegel oder Silbermünzen. Der Mangel an Arbeitskräften machte den wegen seiner Gefährlichkeit berüchtigten Bleibergbau zusätzlich unattraktiv.

Im Jahr 1400, als der Bleiabbau weiterging, erreichte der im Eiskern gespeicherte Bleigehalt in der Luft wieder sein früheres Niveau. Die Daten zeigen auch, wie der Bleigehalt in der Atmosphäre aufgrund von wirtschaftlichen Einbrüchen in den Jahren 1460 und 1885 zurückging.

„Geschichte und Naturwissenschaften haben sich hier sehr schön ergänzt”, sagte More.

BuzzFeed News hat Kim Dietrich von der University of Cincinnati befragt. Den Blei-Experten überrascht es angesichts der Geschichte des Bleibergbaus nicht, dass seit 2000 Jahren kontinuierlich Blei in der Atmosphäre vorhanden ist. Selbst angesichts fürchterlicher Bleiverschmutzungen in Afrika, China und Indien, trotz Katastrophen wie der in Flint sieht Dietrich in der langen Geschichte der Bleiemissionen keine Veranlassung, die für Kinder geltenden Unbedenklichkeitswerte weiter zu senken.

Dietrich sagt: „Ich halte es schlicht für unwahrscheinlich, dass eine Senkung der aktuellen Grenzwerte sich langfristig auf Kinder auswirken wird.”

Gilbert dagegen fordert, dass der Grenzwert für Kinder auf zwei Mikrogramm pro Deziliter Blut gesenkt wird. Er argumentiert damit, dass Studien ermittelt hätten, dass Blei in jeder Hinsicht schädliche Auswirkungen hat. „Blei hat keinen positiven biologischen Nutzen. Die Eiskern-Studie zeigt deutlich, dass der Mensch im Verlauf seiner Geschichte so gut wie keine Abwehrmechanismen gegen Blei entwickelt hat.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

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