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Wie ich mit meiner Essstörung lebe und wie ich sie überwinde

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Mein ganzes Leben hatte ich Schwierigkeiten mit dem Essen. Heute arbeite ich immer noch an einer gesunden Beziehung zu meinem Körper und einer guten Ernährung.

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BuzzFeed.de © Justine Zwiebel / BuzzFeed

Ein Winterabend. Ich stehe am Gasherd in der Küche und erhitze einen Metall-Löffel. Behutsam halte ich den Griff in den Fingern und drehe die Löffelschale vorsichtig über der violetten Flamme. Das bleiche Stück Smart-Balance-Butter beginnt zu schmelzen. Die Ärmel meines übergroßen Sweatshirts reichen mir bis auf die Handflächen. Als ich den Löffel langsam wegziehe, trete ich auf den Saum meiner losen Jogginghose. Ein kleiner Tropfen heiße Flüssigkeit fällt auf meinen Zeh. Ich gieße die zerlassene Butter in eine kleine weiße Schale, die mit Zucker gefüllt ist. Ich gebe Mehl hinzu, etwas Milch, ein paar Tropfen Vanille und eine Handvoll Schokoladensplitter. Dann rühre ich alles zusammen und koste.

Mit der Schale in der Hand gehe ich zum Sofa, stelle sie direkt an der Kante ab und lege mich auf die Seite. Ich esse mit den Fingern, mit denen ich auch hier und da zuckerige Flecken vom dunkelgrauen Samtstoff aufklaube. Im Fernsehen plärren die Stimmen von The Real Housewives of New Jersey. Fast drei Jahre ist es her, dass mein Therapeut mir sagte, mein Essverhalten sei gestört. Seitdem liegen ein Personal Trainer, zwei Jahre Therapie, drei Saftkuren, vier Sportstudiomitgliedschaften, 10 Kilo Gewichtsverlust und 15 Kilo Gewichtszunahme hinter mir. Ganz zu schweigen von den mehreren tausend Dollar für gesunde Lebensmittel und teure Küchenutensilien. Ich bin vierundzwanzig und verbringe den Abend mit einer Schüssel voll minderwertigem Kuchenteig, den ich mir auf den letzten Drücker zubereitet habe. Es ist elf Uhr abends, ich bin allein in der Wohnung und ekle mich vor mir selbst.

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Ich war schon immer übergewichtig – oder zumindest immer etwas zu rundlich in den Hüften. Auf jeden Fall war ich schon zu dick, als meine Familie in die USA übersiedelte. Damals war ich vier Jahre alt. Als Kind hatte ich beim Abendessen regelmäßig Streit mit meiner ungarischen Mutter. Sie fand, dass ich zuviel aß. Die Ellenbogen auf den zerkratzten Esstisch gestützt, sah ich zu, wie sie Kelle um Kelle Reis auf den Teller meines Vaters häufte. "Das ist unfair, Papa hat viel mehr gekriegt als ich", brüllte ich, wenn ich schließlich meine Portion bekam. Ich konnte nicht begreifen, warum ein 1,78 Meter großer und 200 Pfund schwerer Mann aus Nigeria mehr essen sollte als ich. Eine zweite Portion war für mich ein Muss. Oft verlangte ich eine dritte.

In den USA wuchs ich einem reichen weißen Stadtviertel von Lubbock, Texas, auf. Dort war ich die einzige Anita in einem Meer von Amandas, Brittanys und Tiffanys. Ich war ein braunhäutiges, rundliches Mischlingskind. Meine wild abstehenden Haare waren zu einem großen Bausch mitten auf meinem Kopf zusammengebunden. Die Jungen nannten meine Frisur "angebranntes Marshmallow" oder "Tumor". Ich war sozial isoliert und als "anders" abgestempelt. In der Sekundarschule fing ich an, mich übers Essen zu trösten – etwa zu der Zeit ließen meine Eltern mich allein nach Hause (die Schule lag direkt gegenüber) gehen. Die zwei Stunden, bis meine Mutter von der Arbeit kam, verbrachte ich allein. Meine besten Freundinnen spielten das "Boyfriend"-Spiel, wie das bei Mädchen vor der Pubertät in den Vorstädten üblich war – mit kleinen Briefchen, Stofftieren und Verabredungen auf der Rollschuhbahn, wenn die Schule eine Skate Night angesetzt hatte. Auf mich wartete dagegen jeden Tag eine kiloschwere Packung Schokoladenkekse im Kühlschrank.

Irgendwann bekam meine Mutter mit, dass ich heimlich aß. Sie fing an, Süßigkeiten in der Küche zu verstecken, in der Hoffnung, dass ich dann nicht noch dicker werden würde. Der Erfolg war, dass ich lernte, wie man auf Schränke kletterte, und genau abschätzte, wie viel man wegnaschen konnte, bevor es meiner Mutter auffiel. Leere Packungen versteckte ich tief unten im vollen Abfalleimer. Nicht selten warf ich auch die gesunden, "ausgewogenen" Lunchpakete weg, die sie mir mitgab. Vollkorn-Wraps und Sandwiches, Obst, Gemüse und hartgekochte Eier ersetzte ich durch Pizza und Pommes Frites. "Du hast doch heute dein Mittagessen gegessen?", fragte sie mich manchmal vorsichtig und wartete dabei auf mein Ja, obwohl wir beide wussten, dass es eine Lüge war. Sie achtete darauf, dass sie mein Gewicht nicht mit meinem Wert als Mensch in Verbindung brachte. Dafür kritisierte sie ständig meine ungesunde Ernährung. Im Nachhinein nehme ich es ihr nicht mehr übel, trotzdem fühlte ich mich in diesen Momenten verraten. Wenn sie mir meine Süßigkeiten und mein Junk-Food wegnahm, nahm sie mir die einzigen Dinge, durch die ich mich nicht allein fühlte. Nur konnte ich das damals nicht so ausdrücken. Es war schon schwer genug, dass dicke schwarze Mädchen zu sein. Ich wollte nicht auch noch das dicke schwarze Mädchen sein, das Diät macht.

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Als ich älter wurde, legte ich großen Wert darauf, brav (und erwachsen) zu sein. Ich meldete mich für ehrenamtliche Aktivitäten, ich schrieb nur Einsen. Ich trank keinen Alkohol, rauchte nicht, hatte keinen Sex und nahm keine Drogen. Aber ich aß.

Früher hatte ich mich mit Essen über meine Unsicherheiten hinwegtäuschen können. Doch jetzt entwickelte sich mein Essverhalten immer mehr zu einer Form der Selbsttherapie, mit der ich gegen eine ausgewachsene Depression und Angstzustände ankämpfte. Essen verschaffte mir Erleichterung und es war mein Geheimnis. Als ich vierzehn war, zogen wir nach Arkansas. Während meiner High-School-Zeit dort wurde ich zur Stammkundin beim örtlichen Drive-Through-Chinesen. Ich stellte mich mit dem Auto auf einen leeren Parkplatz des Einkaufszentrums und aß mein Krabben-Rangun. Ich hatte mir so viele Aktivitäten auferlegt, um ja beim "richtigen" College angenommen zu werden – Studentenvertretung, Cheerleading, Mitgliedschaften in der National Honor Society und dem Studentenclub Key Club, außerdem Jazz, Stepptanz und Ballett –, dass ich inzwischen völlig überfordert war. Also aß ich, bis ich so voll war, dass ich über nichts mehr nachdenken konnte. Einmal bekam ich eine Rolle in dem Musical, das unsere Oberstufe aufführte. Kaum war die Schule vorbei, rannte ich zum Auto und raste über den Highway zu einem Fast-Food-Restaurant namens Sonic. In der halben Stunde vor der ersten Probe stopfte ich Cinnasnacks (ähnlich wie Mini-Zimtschnecken, nur widerlicher) mit Kirschlimonade in mich hinein. Dass etwas mit mir nicht stimmte, wurde mir erst klar, als ich feststellte, dass ich mehr über das Essen bei meinen Freunden nachdachte, als über die Zeit, die wir miteinander verbrachten.

Die ganze Zeit wollte ich verstehen, was mit mir los war. Das tat ich genau so, wie ich alle meine Probleme als Teenager verstehen wollte: Ich las Zeitschriften. Doch Artikel um Artikel zeigten immer nur dieselben stereotypen Bilder von schlanken weißen Mädchen, mit denen ich nichts gemeinsam hatte. Anorexie war ganz bestimmt nicht mein Problem. Mich nach dem Essen zu übergeben, schaffte ich einfach nicht, obwohl ich es weiß Gott versucht hatte. Bulimie konnte es also auch nicht sein. Meine Gewohnheiten hatten zwar eindeutig etwas mit Fressattacken zu tun, die übrigens vor 2013 noch gar nicht als eigenständige Störung anerkannt wurden. Aber mir kam es immer so vor, dass ich dafür eigentlich zu wenig aß. Meine Tendenz war eher, im Affekt alles mögliche Essbare zu kaufen, ein paar Happen zu futtern und dann alles wegzuwerfen. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass die Popsängerin Lindsay Lohan die Reste ihrer Mahlzeiten mit Wasser übergoss, wenn sie satt war, um sich vom Weiteressen abzuhalten. Danach spülte ich etliche angefangene Eisbecher den Abfluss hinunter.

Lange Zeit hoffte ich, dass sich mein Mangel an Selbstwertgefühl und die schlechten Essgewohnheiten legen würden, wenn ich erst einmal an meiner Traum-Uni studierte. Doch in den ersten beiden Semestern an der vornehmen Brown University in Rhode Island kam ich mir wie eine Hochstaplerin vor. Ich nutzte die Vollverpflegung im Studentenwohnheim schamlos aus und füllte Plastikdosen zum Mitnehmen mit Essen, das ich später auf meinem Zimmer allein hinunterschlang.

Irgendwann fing ich schließlich eine Therapie an. Die Diagnose war Dysthymie – eine schwache, chronische Form der Depression – sowie eine allgemeine Angststörung. Ich meldete mich außerdem bei einem Personal Trainer an. Im letzten Studienjahr fühlte sich mein Körper endlich so an, als ob er für meine 1,57 Meter passte. Ich beteiligte mich in den Seminaren und trat so auf, als ob das, was ich sagte, mir wirklich etwas bedeutete. Und statt allein und voller Zweifel vor mich hinzugrübeln, öffnete ich mich gegenüber meinen Freunden und hatte endlich ein Sozialleben. Als ich in den Frühjahrsferien nach Florida fuhr, nahm ich zum ersten Mal Fotos von mir im Bikini auf. Mehr als jemals zuvor hatte ich das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben. Ich war endlich glücklich.

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Trotz aller Fortschritte gab es eine Hürde, bei der ich meine Angst nicht überwinden konnte: Wie sollte ich einen Beruf finden? Obwohl ich als angehende Journalistin alle nötigen Zusatzqualifikationen abgedeckt hatte – spezielle Schreibkurse, Schreib- und Redaktionserfahrung bei universitären Publikationen, drei Praktika –, war meine Angst, abgelehnt zu werden, riesengroß. Nach meinem Abschluss 2012 fing ich deshalb erst einmal bei Teach for America an, einer gemeinnützigen Organisation, bei der Uni-Absolventen für zwei Jahre als Lehrer auf Zeit in Schulen einkommensschwacher Gegenden unterrichten. Vor mir selbst rechtfertigte ich den Schritt damit, dass die Berufserfahrung wichtig sei, wenn ich später einmal über soziale Missstände und Ungerechtigkeiten berichtete. Drei Monate lang unterrichtete ich Drittklässler in einer öffentlichen Schule nördlich von Providence, Rhode Island. Die ganze Zeit war ich todunglücklich. Mir fehlten die Erfahrung und die pädagogischen Kenntnisse, um auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen. Ich löffelte an einem Tag kleine Gläschen mit Babynahrung, die ich als Mahlzeit rechnete, und am nächsten Tag bestellte ich gleich mehrere Takeout-Kartons vom Chinesen. Im Nu hatte ich die Hälfte meines abtrainierten Gewichts wieder drauf.

Also suchte ich mir eine neue Therapeutin, eine Frau, die auf Gewichts- und Körperthemen spezialisiert war.

"In Ihrem letzten Studienjahr haben Sie sich nur deshalb glücklich gefühlt, weil Sie schlank waren", sagte sie in einer unserer ersten Sitzungen. Ich erfuhr, wie man das nennt, womit ich mich schon so lange herumschlug: gestörtes Essverhalten. In meinem Fall war es chronisch, und in regelmäßigen Abständen entwickelte sich daraus eine volle, wenn auch unspezifische Essstörung. (Der Unterschied liegt in der Häufigkeit des Auftretens und dem Ausprägungsgrad der Störung.) Die Therapeutin brachte mich soweit, dass ich es endlich einsah: Meine gesamte Identität und mein Selbstwertgefühl bemaßen sich daran, was jeweils auf meinem Teller lag. Sie rechnete mir vor, wie ich selbst, als es mir gut ging, immer zu wenige Kalorien zu mir genommen und ein paar Dutzend Spargelspitzen und einige Eier für eine ausreichende Mahlzeit gehalten hatte. Dabei lief ich zu dem Zeitpunkt regelmäßig fünf Kilometer. In meiner Studienzeit, so die Therapeutin, war ich nicht wirklich gesünder geworden, sondern nur von einem Extrem ins andere gefallen. Und mittlerweile schwankte ich zwischen beiden Extremen immer öfter hin- und her.

So dankbar ich war, eine greifbarere Erklärung meines Problems zu haben, ihre Theorie konnte mich nicht überzeugen. Es war viel mehr im letzten Jahr passiert, als nur eine Veränderung meines Gewichts und meiner Ernährung. Das eigentliche Problem war meine Arbeit. Und Rhode Island. Ich hörte auf zu unterrichten und zog weg. Und wie in einem schlechten Film, der ständig neu abgespult wird, war ich innerhalb weniger Monate wieder in meinem Hamsterrad aus Saftkuren und Fressattacken – diesmal in New York, wo ich einen Job bei einem Modemagazin gefunden hatte. Zum Glück war die Zelle in dem Großraumbüro, in dem ich arbeitete, kaum von außen einsehbar. Meine Kollegen bekamen nicht mit, dass ich permanent erlesene Köstlichkeiten von sämtlich heißen Büffets der umliegenden Midtown-Restaurants in mich hineinstopfte. Nach einem halben Jahr kündigte ich den Job, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Während meiner "freien Zeit" der Arbeitslosigkeit suchte ich wie besessen nach einer neuen Stelle. Nebenbei sah ich mir die gesamten fünf Staffeln Breaking Bad an und ließ mir mitten in der Nacht vom Online-Lieferanten Seamless mein Essen liefern.

Pause. Vorwärtsspulen. Zurückspulen. Wiederholen.

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Mittlerweile bin ich seit fast zwei Jahren in New York. Im großen und ganzen hat sich mein Leben etwas stabilisiert. Aus dem beengten Apartment, das ich mir anfänglich mit mehreren Mitbewohnern teilte, bin ich ausgezogen und habe jetzt meine eigene Wohnung. Ich habe eine Arbeit und einen Partner, den ich liebe. Außerdem koche ich ziemlich häufig, esse deutlich gesünder und lasse die Welt über Instagram an den Gerichten teilhaben, auf die ich besonders stolz bin.

Und trotzdem – vor zwei Wochen besuchte ich meine Eltern in Arkansas, und alles lief komplett schief. Mein Freund und ich hatten einen Streit, außerdem mussten wir wegen schlechten Wetters unsere Flüge umbuchen. Während eines Zwischenstopps auf dem Weg zurück nach New York fühlte ich meine Erschöpfung. Meine Gedanken kreisten um die Frage, was ich essen könnte. Ich spürte das überwältigende Bedürfnis, zum Kong Wah Express zu gehen und eine Kombo-Platte in mich hineinzustopfen, entschied mich aber schließlich für einen sehr vernünftigen Salat einer aufdringlich gesunden Salatbar ("leckeres Grünzeug", "frisch aus dem Garten"). Der Lachs aus der Dose war viel zu bleich, die Salatsoße schmeckte nach Fabrikware von Kraft. Vor allem fühlte ich mich wie eine übergewichtige Frau, die bewusst nur einen Salat isst. Ich schob den Teller beiseite und griff zum Portemonnaie. Nach einer Runde durch den Food-Court des Terminals stand ich vor dem King Wah Express.

"Was kostet eine Beilage Lo Mein?", fragte ich die Frau hinter der Theke.

"4,99 $"

Die Portion war nicht groß, aber es ärgerte mich, dass ich bereits 13 Dollar für etwas ausgegeben hatte, das im Abfall landen würde. Ich entschied mich um.

"Ich nehme zwei Krabben-Rangun."

Ich setzte mich an einen Tisch und aß die Teigtaschen so, wie ich sie immer aß: zuerst die knusprigen Ecken, dann das weiche, matschige Mittelstück mit der Füllung. Die Entensoße tropfte aus den Öffnungen und ich wischte das Fett von meinen Fingern. Dabei fragte ich mich, ob meine Essgewohnheiten sich jemals grundsätzlich ändern würden, ob ich dazu überhaupt in der Lage war. Ich zog den Bund meiner Leggings hoch. Am oberen Saum lösten sich auf Schenkelhöhe bereits die Fäden, und das, obwohl ich die Leggings vor kaum einem Monat gekauft hatte. Das Kofferpacken für die Reise war ein Klacks gewesen. Ich war so dick wie noch nie, deshalb passten mir die meisten Kleider sowieso nicht.

Das letzte Mal hatte ich im Jahr 2013 Krabben-Rangun in Rhode Island gegessen. Da ich mich nicht hatte aufraffen können, zum YMCA direkt gegenüber von meiner Wohnung zu gehen, hatte ich mich für eine Mitgliedschaft in einem Billig-Sportstudio entschieden. Der Laden war in einer anderen kleinen Stadt, zehn Minuten mit dem Auto. Irgendwie motivierte mich das mehr, als in einem Gebäude zu trainieren, das ich buchstäblich von meinem Schlafzimmerfenster aus anstarren konnte. Ich kann die Male, die ich in dieses Sportstudio gegangen bin, an zwei Händen abzählen. An die Räumlichkeiten erinnere ich mich nur schwach. Was mir aber bestens präsent ist, ist das Büffet des chinesischen Restaurants im Shopping Center nebenan. Zweimal war ich dort: Einmal aß ich drinnen in einer Sitznische mit Kunstlederbänken. Neben mir saß ein Paar mit zwei nervigen Kindern. Das andere Mal hatte ich das Essen mit nach Hause genommen und die Mahlzeit in meiner Küche verzehrt. Ich hatte dabei auf einem roten IKEA-Stuhl aus Plastik gesessen.

Ich kann es verdammt noch mal nicht fassen, dass ich schon wieder hier sitze. Das dachte ich, während ich mit dem Daumen die Krümel vom Tisch des Flughafenrestaurants fegte.

Aber das ist jetzt auch schon wieder zwei Wochen her.

Im Laufe der Zeit ist mir eines aufgefallen: Ich esse genau so, wie ich morgens die Schlummertaste meines Weckers betätige. Immer nach dem Motto: Nur noch ein kleines bisschen mehr. Ich bin müde, wenn ich voller Energie sein sollte, und mein Magen fühlt sich leer an, wenn ich eigentlich total satt sein müsste. Wenn ich aufwache, denke ich als Erstes ans Essen, und bevor ich ins Bett gehe, denke ich daran. Ich verbringe nach wie vor sehr viel Zeit damit zu verbergen, wie viel ich tatsächlich esse. Obwohl ich seit neun Monaten eine eigene Wohnung habe, besitze ich immer noch keine Mikrowelle. Ich bilde mir ein, dass sich meine Esssucht besser in Schach halten lässt, wenn das Kochen oder Aufzuwärmen nicht ganz so bequem für mich ist. Ich bin immer noch nicht in Therapie, obwohl ich mich fast jede Woche auf die Suche nach einer Therapeutin begebe. Doch es überfordert mich vollkommen. Immerhin gestehe ich mir allmählich ein, dass das gestörte Essverhalten selbst der Grund ist, warum ich unglücklich bin – und nicht nur ein Symptom anderer Probleme.

Und ich versuche es mit einem neuen Essprogramm. Heute ist der vierte Tag, an dem ich morgens erst einmal aufs Sofa gekuschelt eine Tasse Tee getrunken habe – vor dem Griff zum Kühlschrank. Bevor ich die Wohnung verlasse, packe ich mein Mittagessen ein: eine anständige Portion Pad Thai mit klein geschnittenen Kürbis und Garnelen. Das Gericht habe ich zu Beginn der Woche mit Leidenschaft gekocht. Dazu Blaubeeren. Der Behälter ist eine blaugrüne Bentobox aus Plastik mit idiotisch aussehenden Griffen. Es ist mir peinlich und gleichzeitig bin ich fast ekstatisch, dass ich mit meinem Lunchpaket in der U-Bahn sitze und ins Büro fahre. Was werden die Kolleginnen wohl von diesem krassen Sinneswand halten? Sie kennen mich ja nur als eine, die den ganzen Tag einen Snack nach dem anderen an ihren Schreibtisch karrt. Doch ich weiß, wenn ich das gegessen habe, was in der Box ist, werde ich mich besser fühlen. Heute werde ich mein Mittagessen nicht wegwerfen.

Hilfe

Falls Du selbst eine Essstörung hast oder jemanden kennst, der darunter leidet, gibt es einige Anlaufstellen, wo Du oder deine Freunde hilfen suchen können. Diese Hilfe steht auch Angehörigen von Essgestörten zur Verfügung.

Telefonseelsorge 08 00 – 1 11 01 11

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (02 21) 89 20 31

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